Über kulturelle Hegemonie und europäische Werte. Zu S. Nowotny "Ethnos oder Demos?", Kulturrisse 00/00

Einerseits kommt bekanntlich "zuerst das Fressen und dann die Moral" - bzw. zuerst der Euro und dann Kultur 2000.

Eine Replik auf S. Nowotny "Ethnos oder Demos?", in: Kulturrisse 00/00.


"Si c'était à refaire, je commencerais par la culture." (Jean Monnet ?)

Diese Aussage, die abwechselnd Jean Monnet zu- und wieder abgesprochen wird, und die sich in fast jedem Text finden lässt, in dem es irgendwie um EU und Kultur geht, ist nicht nur pathetisch und vage, sondern auch völlig unsinnig. Kein politisches Projekt mit nur einigermaßen Aussicht auf Erfolg wurde "mit der Kultur" begonnen. Denn einerseits kommt bekanntlich "zuerst das Fressen und dann die Moral" - bzw. zuerst der Euro und dann Kultur 2000 - und andererseits ist es ja ein wesentliches Merkmal von "Kultur", wie auch immer mensch diese genau definieren möchte, dass sie schlecht direkt und voluntaristisch beeinflussbar ist. Daher werden politische Reformprojekte mit ökonomischen Mitteln begonnen; das gilt sowohl für den einmal real existiert habenden Sozialismus, der ja laut Lenin aus Kollektiveigentum plus Elektrifizierung bestand, als auch für die Europäische Union, die als Europäischer Kohle- und Stahlpakt begann.

Allerdings war Lenins Definition kurzsichtig: Um ein einigermaßen stabiles politisches System aufzubauen, bedarf es mehr als ökonomischen und technologischen Fortschritts - es ist dazu das nötig, was Antonio Gramsci "kulturelle Hegemonie" nannte. Ein politisches System, dem es nicht gelingt, Teil der Wertvorstellungen seiner Mitglieder zu werden, bleibt notwendigerweise fragil. Auch wenn es unzulässig verkürzt wäre, den Zusammenbruch des Sozialismus in Ost- und Mitteleuropa nur auf das Fehlen kultureller Hegemonie, auf den Mangel an zivilgesellschaftlichen Strukturen des herrschenden Systems zurückzuführen, so machte doch insbesondere die Entwicklung der ehemaligen DDR deutlich, wie wenig von 40 Jahren ökonomischen und politischen Anders-Seins übrigbleibt, wenn das kollektive Selbstverständnis dazu fehlt.

Kulturelle Hegemonie ist der präzisere Begriff für die euphemistische "kulturelle Identität", die durch die Schriften zeitgenössischer WissenschaftlerInnen von LeGoff bis Huntington geistert - präziser insofern, als deutlich wird, wozu Kollektividentitäten nützen, nämlich zur Stabilisierung polit-ökonomischer Strukturen. Ausgehend von dieser Grundannahme erscheint es nicht sinnvoll, einem politischen System vorzuwerfen, dass es nach kultureller Hegemonie strebt. Genau dies tut indes Stefan Nowotny über weite Strecken seines Textes in den letzten Kulturrissen: Er beklagt aus normativer Sicht die Versuche der Europäischen Union, so etwas wie eine Kollektividentität ihrer BürgerInnen zu entwickeln und wählt damit einen seltsam verdrehten Zugang zu einer EU-Kritik.

Was sinnvollerweise an der Europäischen Union in Frage gestellt werden kann, ist 1.) ihr grundlegender Anspruch auf politische Legitimität, und/ oder 2.) die Form, in der sie diese politische Legitimität kulturell absichern will.

Ad 1.) lässt sich ganz grundsätzlich aus linker Sicht der kapitalistische Charakter des europäischen Einigungsprojektes konstatieren - und gäbe es ein linkes Gegenmodell, so müsste es danach streben, gegen die Ansprüche der EU kulturelle Hegemonie zu erringen. Solange es dafür an Konzepten fehlt, erscheint es immerhin sinnvoll, ad 2.) die Form der Kollektividentitätsbildung der EU einer näheren Betrachtung zu unterziehen - etwa nach der von Nowotny vorgeschlagenen Differenzierung zwischen ethnos und demos: Wird die Legitimität der Europäischen Integration aus dem Geschichtsmythos einer Herkunftsgemeinschaft abgeleitet oder beruft sie sich auf gemeinsame demokratisch-rechtsstaatliche Werte einer Verfassungsdemokratie ? Der Schlüsselsatz zur Beantwortung dieser Frage ist wohl der auch von Nowotny zitierte Absatz 4 des begründenden Teils zum Programm Kultur 2000:

"Um die volle Zustimmung und Beteiligung der Bürger am europäischen Aufbauwerk zu gewährleisten, bedarf es einer stärkeren Hervorhebung ihrer gemeinsamen kulturellen Werte und Wurzeln als Schlüsselelemente ihrer Identität und ihrer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die sich auf Freiheit, Demokratie, Toleranz und Solidarität gründet."

Dies ist nun allerdings ein nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich reichlich verschachtelter Satz. Erstens erscheint der Versuch, demokratische Normen als europäische kulturelle Werte und Wurzeln zu verkaufen, aus historischen Gründen wenige Jahrzehnte nach Nationalsozialismus, Faschismus und Kolonialismus gewagt.

Zweitens, und grundsätzlicher, widerspricht diese Definition ihrer ganzen Idee nach dem Wesen des Politischen als Wettbewerb zwischen verschiedenen Ideen um Geltung und definiert, wie Boris Buden zu Recht in den Kulturrissen August 1998 schreibt, "das demokratische politische System im Rahmen des gegenwärtigen liberalen Kapitalismus (...) als eine ideologiefreie Tatsache, (...) (als) zivilisierte Welt schlechthin." Damit werden politische Normen auf ähnliche Art wie rassische Herkunftsmerkmal als Ein- und Ausschließungsgrund verwendet statt als mit politischen Mitteln anzustrebendes Ziel.

Drittens allerdings möchte ich behaupten, dass diese ungeschickte Definition der kulturellen Werte Europas doch dem Begriff des "demos" sehr viel näher steht als dem "ethnos" - sind es doch Rechte und Pflichten des demokratischen Souveräns, die hier als konstituierende Merkmale genannt werden.

Und viertens zeigt die bürokratisch-verkrampfte Formulierung selbst, dass Identitätskonstruktionen der Europäischen Kommission denen der meisten regionalen und nationalen ProponentInnen vorzuziehen sind: Es gab kaum je eine politische Konstruktion, die weniger sexy war als die Europäische Union. Und dies ist, wenn es um so emotional aufgeladene Bereiche wie Kollektividentitäten geht, uneingeschränkt als Vorzug zu sehen. Wenn wir uns Gramscis Auffassung anschließen, dass politische Entitäten notwendigerweise kulturelle Hegemonie anstreben, um zu überleben - in welcher besseren Form könnten wir uns dieses Hegemoniestreben wünschen denn als Finanzierungsprogramm?

Für diejenigen, denen die Essenzialisierung kultureller Unterschiede ein Anliegen bedeutet, ist die diesbezügliche Halbherzigkeit der EU selbstverständlich problematisch. Daher ist es sicher kein Zufall, dass - wie von Nowotny ausführlich beschrieben - TheoretikerInnen diverser Disziplinen sich um klarere Konzepte einer europäischen Kultur bemühen und damit nicht nur neue Grenzen zwischen innen und außen schaffen, sonder auch ökonomische und politische Unterschiede kulturalisieren - auf durchaus ähnliche Weise übrigens wie dies aufrechte Linke mit dem Konzept des Multikulturalismus taten, indem sie "Probleme von ZuwandererInnen, die auf Diskriminierung in so gut wie allen gesellschaftlichen Sektoren zurückzuführen sind, (...) mithilfe der Idee ‚kultureller Identität' zu kulturellen Schwierigkeiten umgemünzt und somit außerhalb von Politik gestellt (haben)." Die Identitätskonstruktionen der Europäischen Kommission einerseits und diverser KulturwissenschaftlerInnen andererseits in ihrer Gesamtheit als ein Identitätskonzept der EU zu verstehen, wie dies Nowotny tut, trägt indes nicht zum besseren Verständnis der komplexen Zusammenhänge dieser Identitätsbildung bei.

Die Europäische Union wurde gegründet, um eine zentrale normative Zielsetzung - die Verhinderung von Faschismus und Krieg - mit den Mitteln der wirtschaftlichen Vereinigung zu erzielen. Die sogenannten Sanktionen gegen Österreich waren ein Zeichen dafür, dass diese grundlegende Zielsetzung trotz des Primats des Ökonomischen noch eine Rolle spielt - und sie zeigten zugleich, dass die Union keine tauglichen politischen Verfahren für den Umgang mit Problemen entwickelt hat. Und die Konferenz von Nizza machte wieder einmal deutlich, wie schwierig der Prozess einer politischen Einigung ist, der sich in Konkurrenz und zugleich ständiger Abstimmung mit den Ansprüchen der Mitgliedsstaaten entwickeln muss. Die Gefahren, die die zögerliche Entwicklung eines funktionierenden politischen Systems auf europäischer Ebene insbesondere in Hinblick auf demokratische Werte in sich birgt, sind offensichtlich und bekannt. Die Chancen der zahlreichen Hürden der Integration liegen m.E. darin, dass sie es nötig machen, sich von der "Schimäre einer kollektiven Identität der Europäischen Union (zu trennen) und (...) (anzuerkennen), dass es nicht nur nationale, sondern auch sub- und transnationale Identitäten gibt, die einander überschneiden, aber auch widersprechen können." In diesem Sinne zähle ich auf die Unterstützung der europäischen Bürokratie, wenn es darum geht zu verhindern, was ein deutscher Politikwissenschaftler in völlig distanzloser Essenzialisierung bei einem Kongress vor einigen Monaten einforderte, dass nämlich "Menschen bereit sein sollten, für Europa zu sterben."

Monika Mokre arbeitet am Research Unit for Institutional Change and European Integration der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ist Mitglied von FOKUS, Forschungsgesellschaft für kulturökonomische und kulturpolitische Studien