Wie viel Stadt ist an einem Tag möglich?

Das Instant-Stadt-Experiment k24h als Projektions-Raum für urbane Dynamiken. 

Das Instant-Stadt-Experiment k24h als Projektions-Raum für urbane Dynamiken. 

Nach der Bronze

Mitte des vorigen Jahrhunderts erstellte der australische Archäologe Vere Gordon Childe eine Einteilung, in der er alle Faktoren anzuführen trachtete, die das Phänomen „Stadt“ beschreiben sollten. Childe schlägt vor, den Anfang der Urbanität in der Bronzezeit anzusetzen. Alle Zusammenschlüsse von Menschen vor der Bronzezeit können bloß als „Siedlungen“ bezeichnet werden, auch wenn für Städte signifikante Merkmale wie Arbeitsteilung, Verwaltung, Über- und Bewachung der EinwohnerInnen bereits vorhanden waren. Den Unterschied macht der Faktor des resource outsourcings aus.

Dort, wo Kupfer vorkam, gab es meist kein Zinn, einen essenziellen Bestandteil von Bronze. Deshalb entstanden Stätten, an denen Rohstoffe von Händlern verschiedenster Herkunft umgeschlagen und meist gleich verarbeitet wurden. Es entstand eine Infrastruktur, deren Arbeitsteilungsprozesse immer diffiziler wurden, immer mehr Menschen strömten in diese Städte. Das Zusammenkommen vieler Menschen und Kulturen auf engstem Raum machte eine Regierung notwendig, die das Zusammenleben durch ein einheitliches Regelwerk stabilisierte.

Das Copy/Paste-Prinzip

Jean-Jaques Rousseau wollte seinen Emile fernab von Städten zu einem ethischen Menschen erziehen, weil er in ihnen die Quintessenz der Künstlichkeit und Verdorbenheit der menschlichen Zivilisation sah. Die höchstabstrakten Umgangsformen, die das dichte Nebeneinander-Wirken und -Wohnen von unterschiedlichsten Menschen auf engem Raum erforderte, würden den Menschen laut Rousseau immer weiter weg von seinem natürlichen Zustand der Autonomie und Autarkie führen. Die Kritik richtet sich gegen den Stabilisierungsprozess, den eine Stadt durchsetzen muss, um ein Zusammenleben zu ermöglichen. Als effektivstes Mittel, um die stabilisierende Allgemeinheit zu gewährleisten, setzte sich das „Copy/Paste-Prinzip“ durch.

Wo viele verschiedene Menschen, Meinungen und Anschauungen miteinander konfrontiert werden, da sind Anhaltspunkte vonnöten. Die urbane Antwort auf Pluralisierung ist die Erzeugung von Erwartbarkeiten. Die zeitgenössische „Event-Culture“ ist ein anschauliches Beispiel dieser manifestierten Erwartbarkeit. Ein anderes sind Einkaufszentren, die aus sich selbst heraus mit den Skalen der Stadt mitwachsen. Walter Benjamin sprach im unvollendeten Passagen-Werk über Einkaufszentren in Paris, die wie Wohnzimmer und Wohnzimmer, die wie Einkaufszentren eingerichtet seien. Das Einkaufszentrum kopiert sich in die Privatwohnungen. Das „Copy/Paste-Prinzip“ erlaubt den StadtbewohnerInnen und -besucherInnen, sich sofort zu orientieren, ohne sich örtlich orientieren und identifizieren zu müssen.

Tote Drachen

Städte waren früher das Zentrum der industriellen Produktion. Heute werden die meisten Waren maschinell erzeugt. Deswegen scheint es – um Arbeitslosigkeit zu vermeiden – unvermeidlich, Dienstleistungsberufe die weggefallenen Produktionsberufe ersetzen zu lassen. Dafür müssen Dienstleistungen geschaffen werden. Die Stadt scheint viel mehr Möglichkeiten als der ländliche Raum zu bieten, um solche Dienstleistungsbedürfnisse zu generieren und zu stillen. Es scheint, ein innovatives Umfeld benötigt räumliche Nähe für kreatives Potenzial. Städtische Infrastruktur ist notwendig, um effizient zu funktionieren. Die kreative Atmosphäre des urbanen Raums stellt den der Stabilisierung durch die Stadtverwaltung entgegengesetzten Pol der Destabilisierung dar. Dem „Copy/Paste-Prinzip“ und den damit verbundenen Erwartbarkeiten wird durch Aufzeigen von und der Reflexion auf Habitualisierungen entgegengearbeitet.

Francoise Choay erkannte die Außenwände der Gebäude als die Innenwände der Straße. Gerade Einkaufszentren bieten ein gutes Beispiel dafür, wie sehr das event-orientierte Handeln nur die Innenseite des Gebäudes betrifft, nicht aber seine Außenseite. Wie tote Drachen liegen moderne Einkaufszentren da, mit dicker Haut, die langsam verfällt. Erst wenn man nach innen geht, dann findet wieder Leben statt, erst wenn man die Außenseite nicht mehr sieht. An diesem Punkt bedarf es destabilisierender Faktoren und Praktiken wie zum Beispiel des sogenannten Freiraum-Hackings. Das Leben muss wieder ins Innen des Außen gekehrt werden, um damit ein ausgleichendes Gegengewicht zur Regulierung des öffentlichen Raums durch die Städte herzustellen, damit das kreative Potenzial des urbanen Raums und die damit verbundene Versatilität nicht zu sehr eingeschränkt werden.

Freiraum-Hacking

Kennzeichnend für die Praxis des Kunst- und Urbanismus-Kollektivs kampolerta sind die Schaffung von Neu- und Desorientierungen im öffentlichen Raum, die Verquickung von spielerischer, improvisierender Ausführung und akribischer Planung. Diese Vorgangsweise ist experimentell und performativ, verschiedene Erscheinungs- und Inszenierungsformen im urbanen öffentlichen Raum werden praktisch getestet und umgesetzt. Sogenannte Freiraum-Hacking-Interventionen sind somit nicht zuletzt auch gleichbedeutend mit Performance und Interaktion. Der urbane öffentliche Raum wird zum Versuchsfeld für ephemere, individuelle Raumaneignungen, für künstlerische Neuinterpretationen von Alltäglichem oder Banalem. Oft bleiben keine dauerhaften Spuren zurück, nur das Erlebnis bleibt in der Erinnerung.

Interpretiert und analysiert man vergangene kampolerta-Projekte, so ziehen sich leitmotivisch die Themen Stadtgrün und soziale Aspekte öffentlicher Räume durch die Aktivitäten. Oft geht es darum, versteckte Potenziale in öffentlichen, städtischen Freiräumen für ihre BewohnerInnen sichtbar, greifbar und nutzbar zu machen. Flächen, die nicht im öffentlichen Fokus stehen, werden neu bespielt, angeeignet oder hervorgehoben. Das lenkt Aufmerksamkeit auf urbane Orte, die scheinbar in Vergessenheit geraten sind.

Stadt selber machen

Das Projekt k24h ist Teil von urbanize! Internationales Festival für urbane Erkundungen 2012, das von dérive – Verein für Stadtforschung von 5. bis 14. Oktober zum dritten Mal veranstaltet wird. urbanize! erkundet zehn Tage lang die Stadt als Zentrum kultureller, wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Entwicklungen. Das Festival verbindet die Vielfalt an Disziplinen in ihrer Auseinandersetzung mit der Stadt als Kunst-, Forschungs- und Lebensraum und bündelt die multiperspektivischen Stadtsichten von KünstlerInnen, MusikerInnen, FilmemacherInnen, PerformerInnen und ForscherInnen.

kampolerta versteht das diesjährige Festivalthema Stadt selber machen als Aufforderung und Handlungsanweisung und entwirft mit k24h eine ephemere, soziale Skulptur im öffentlichen Raum. Diese Instant-Stadt wird am 7. Oktober auf einer aufgelassenen Autobahnrampe im 2. Bezirk (@48.204406,16.430147), rund 200 Meter von der U2 Station Donaumarina entfernt, zwischen Süd-Ost-Tangente A23 und den Kleingärten „Grünland“ im Prater, errichtet.

k24h

k24h ist künstlerisches Experiment und Forschungsgegenstand zugleich, geleitet von der Frage: Wie viel Stadt ist an nur einem einzigen Tag herstellbar? kampolerta simuliert Stadt für 24 Stunden, nicht in ihrer gebauten Form, sondern in den sozialen Prozessen, die einer Stadt zugrunde liegen und dieser erst ihre Urbanität verleihen.

Die Migration nach k24h bringt im Laufe eines Tages nicht nur immer mehr Menschen, sondern auch Gegenstände an einen ausgewählten Ort, die eine „Stadt für alle“ mitgestalten. Diverse Einrichtungsgegenstände, Pflanzen, Picknickdecken, Haushaltsutensilien (aus Bronze?), Freizeit- und Spielgeräte, Dekor, Kleidung und vieles mehr definieren das äußere und innere Entstehen dieser Stadtgemeinschaft. Die informelle Stadt wächst bis zum Sonnenuntergang des 7. Oktober 2012 immerfort weiter.

Gestartet wird das Projekt am Samstag, den 6.10.2012 mit Einbruch der Dämmerung durch die Ankunft eines Wohnmobils, das sich an der Grenze zwischen Rasenstreifen und Autobahnasphalt positioniert und über Nacht als erster Baustein, Kristallisationspunkt der kommenden Stadt fungiert. Bereits an diesem ersten Abend folgen KünstlerInnen, JournalistInnen, AktivistInnen, PassantInnen und BewohnerInnen der benachbarten Kleingartensiedlung der im Vorfeld lancierten Einladung von kampolerta und urbanize! zur Gründung und Errichtung von k24h. Erste Zelte und alternative Behausungen werden errichtet, die erste Nacht der kleinen Ansiedlung bricht herein.

Am darauf folgenden Morgen hat sich auf der brachliegenden Autobahnabfahrt eine mobile Küche zum Guerilla Cooking eingefunden. Es wird publik gefrühstückt. Neue BewohnerInnen der k24h trudeln ein. Ein Ortsschild wird errichtet, Freiräume und Flächen für Sport und Spiel werden abgesteckt, Leinwände aufgestellt, Tische ausgeklappt, ein „Stadttor“ errichtet. Jede/r neue Citoyen/ne wird am Stadteingang willkommen geheißen, registriert und bekommt ein kampolerta-city-kit mit Stadtwappen, BürgerInnenurkunde und individuellen Gebrauchsgegenständen. Die EinwohnerInnenzahl der 24h-Stadt wächst stetig an.

Workshops im Laufe des Tages regen bestimmte Themen in der kurzzeitigen Polis an: „Polis/Agora/Demokratie“ (Alexander Emanuely/Republikanischer Klub) verhandelt Möglichkeiten (direkt-)demokratischer Entscheidungsprozesse in einer spontanen Gesellschaft, die Näh- und Siebdruckwerkstadt MIK – Mobile Initiative Kunst (Stefanie Sandhäugl, Helmut Preis) bringt das Handwerk nach k24h, ein Bannerworkshop eröffnet alternative „Werbeflächen“ in der Stadt und der Non-President des state of sabotage (Robert Jelinek) hat bereits eine Gipfelkonferenz angekündigt.

Mit Sonnenuntergang wird der bis dahin erreichte Zustand dokumentarisch „eingefroren“, bleibt für einen Abend als soziale Skulptur von außen sichtbar und mittels eines ersten und letzten Stadtfestes als lebendige 24h-Utopie von innen erlebbar. Es kann noch ein letztes Mal in der kollektiv gebauten Stadt übernachtet werden. Am darauf folgenden Morgen werden die Zelte abgebrochen, die temporäre Stadt verschwindet.

Die Instant-Stadt k24h ist damit eine Simulation von Stadt in der Stadt sowie das Durchspielen von selbstorganisiertem Bauen und Leben in einer Stadt. Durch den rasanten, informellen Bricolage-Städtebau der k24h wird der begrenzte Zugang zur Ressource Raum in einer dichten und stark wachsenden Stadt wie Wien genauso Thema sein wie der Umgang mit soziopolitischen und demokratiebildenden Prozessen in einer Stadtgesellschaft.

Anmerkung

Mitmachen: Es werden Interessierte gesucht, die sich an dem Projekt beteiligen, mitbauen möchten, Ideen austauschen, einbringen und mitdiskutieren wollen. Es können im Vorfeld Wünsche, Visionen, Träume für eine „Stadt an nur einem Tag“ eingesendet werden … oder einfach spontan am 7. 10. zwischen 11:00-23:00 an k24h teilnehmen und teilhaben und Stadt selber machen …

Bernd Gutmannsbauer ist freier Autor und Doktor der Philosophie in spe, als Adrian Flux Musikproduzent und Live-Performer sowie Co-Founder des interdisziplinären Musikprojekts Usonia Ensemble.

Michael-Franz Woels ist freier Autor und Musiker; Mitgründer des Usonia Ensemble und Obmann des Vereins kampolerta – Kollektiv für Landschaftsarchitektur, Kunst- und Urbanismus

Email kampolerta

www.facebook.com/kampolerta

Literatur

Banik-Schnitzler, Renate/Blau, Eva (2003): Urban Form Städtebau in der postfordistischen Gesellschaft. Wien.

Benjamin, Walter (1983): Das Passagen-Werk Erster Band (herausgegeben von Rolf Tiedemann). Frankfurt am Main.

Childe, Vere Gordon (1950): „Urban Revolution“. In: The town planning review, Vol. 21 No. 1. Liverpool.

Francoise Choay (1969): Espacements: essai sur l’revolution de l’espace urbain en France. priv. publ.

Rousseau, Jean-Jaques (1998): Emile oder Über die Erziehung. Paderborn.

Rousseau, Jean-Jaques (1995): Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750) Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Hamburg.

Woels, Michael-Franz (2009): Einwände?! – Freiraum-Hacking an der Schnittstelle zwischen Kunst & Landschaftsarchitektur. Diplomarbeit an der Universität für Bodenkultur / Universität für Angewandte Kunst. Wien.