Kultur Neudenken. Nur wer Teil sein kann, kann auch teilhaben
Grenzen sind in den Köpfen so fest verankert und mit Tabus belegt, dass die Entscheidungsträger_innen im Kulturbetrieb gar nicht dazu kommen, ihre Entscheidungen zu reflektieren. Das fehlende Vertrauen bezüglich der Kompetenz von Kulturschaffenden mit Migrationshintergrund wird zur self-fulfilling prophecy.
Immer wieder denkt die Mehrheit nach, wie sie im Kulturbetrieb irgendwas von und für Migrant_innen machen könnte. Heraus kommen dann irgendwelche Sonderkulturprojekte am Rande der Sozialarbeit. Niederschwelligkeit wird zu Qualitätsmangel. Das soziale Engagement für Wiener_innen mit Migrationshintergrund und solche, die es werden könnten, rechtfertigt aber wohlgemerkt nie mehr als niedrig dotierte Sondertöpfe. Das Sonderbare wird exotistisch ausgesondert.
Den Teufelskreis der Dequalifizierung durchbrechen
Es geht nicht um soziales Engagement, es geht um den Kulturbetrieb dieser Stadt. Es geht um ein neues Wir, um ein Bekenntnis zu dieser Stadt und ihren Bewohner_innen. Es geht um die Zukunft; und dafür muss es Ressourcen geben. Dazu bedarf es einer neuen Einstellung in der Gesellschaft. Diese neue Einstellung beginnt hier. Bei den Intellektuellen. Wenn dieses neue Wir nicht hier entsteht, dann entsteht es nirgendwo. Daher die Frage: Warum wird von den kulturschaffenden Migrant_innen, die hier leben, niemand zum role model gemacht? Weil hier in Österreich seit Jahrzehnten Dequalifizierung von Migrant_innen betrieben wird, damit sie nur ja auf ihrem Platz bleiben. Auch im Kultur- und Kunstbetrieb.
Grenzen sind in den Köpfen so fest verankert und mit Tabus belegt, dass die Entscheidungsträger_innen im Kulturbetrieb gar nicht dazu kommen, ihre Entscheidungen zu reflektieren. Das fehlende Vertrauen bezüglich der Kompetenz von Kulturschaffenden mit Migrationshintergrund wird zur self-fulfilling prophecy. Weil kaum Förderungen gegeben werden, kann sich keine Kompetenz entwickeln. Aber das mangelnde Vertrauen, das defizitäre Denken und die Abwertung könnten aufgehalten werden, wenn migrant-mainstreaming in Enscheidungsgremien, Kuratorien und Beiräten sowie generell in Institutionen Alltag wird. Der Teufelskreis der Dequalifizierung könnte an dieser Stelle durch konsequente Investitionen durchbrochen werden.
Wien denkt weiter (hinten nach)
Wien denkt weiter, träumt weiter von Stars mit Migrationshintergrund, die den Wiener Kulturbetrieb modernisieren und transnationalisieren sollen. Und diese Stars gibt es halt leider nur im Ausland. Daher holen wir uns diese Stars um teures Geld und haben wieder keine nachhaltige Entwicklung im Land, weil hier nichts aufgebaut wird, keine Nachwuchsarbeit geleistet wird, keine Verankerung eines Kulturbetriebes in den Communities passiert. Die Verhinderung einer anderen Zukunft: Diskriminierung pur! Solange das defizitäre Denken den „Anderen“ gegenüber in der Gesellschaft und in den entscheidenden Gremien herrscht, so lange wird es unmöglich bleiben, von der kulturellen Teilhabe der Bevölkerung zu reden; … der Bevölkerung, einfach so, ohne diskriminierende Unterscheidungen. Nur wer als Teil angesehen wird, kann auch teilhaben. Wer nicht als Teil angesehen wird, bekommt immer nur irgendwas Besonderes, was die Nichtteilhabe perpetuiert.
Wir haben es hier nicht mit einem rein österreichischen Problem zu tun, aber Österreich ist weit hinten nach. Das MC (Made in da Shade & Cosmic) Theater in Amsterdam beschreibt sich und seine Arbeit wie folgt:
„Western Europe today is a multi-etnic and multi-cultural society, and has been increasingly so over the last three decades. This undeniable reality is next to invisible in its cultural institutions. Mainstream art and culture in Europe does not reflect the reality of its streets. Young European artists who have grown up in this new reality are redefining Europe’s identity through their work. MC’s theater, workshop gives them a stage and nurtures their talent. Our productions explore Europe’s new identity: its past and its future.“
Kultur Neudenken
Kultur Neudenken bedeutet in diesem Kontext, dass die Stadtgesellschaft aus einer Anzahl von Kulturen besteht. Diese Kulturen dürfen nicht im Herderschen Sinne als monokulturell gedacht werden. Sie sind nicht als Sprachgruppen, sondern vielmehr als Bündel von Lebensstilen zu erfassen. Die Institutionen, darunter auch der Kulturbetrieb, müssen ihr monokulturelles Denken überwinden und als erstes diese demografische und kulturelle Vielfalt zur Kenntnis nehmen, um in Folge ihre Angebote an diese Vielfalt anpassen, neu konzipieren und weiterentwickeln zu können.
Neudenken der Kultur(politik) bedeutet, dass diese Vielfalt sowohl in den Strukturen als auch in den Angeboten des Kulturbetriebes ihren Niederschlag findet. Nur so kann der Kulturbetrieb der Bevölkerung gerecht werden. Die neue gesellschaftliche Realität in den Städten fordert neue Rahmenbedingungen. Einerseits ist die Öffnung aller Kultur- und Kunst-Institutionen notwendig – sowohl was die transportierten Inhalte betrifft als auch das Personal. Andererseits müssen Projekte ins Leben gerufen und aktiv kuratierte Töpfe zur Verfügung gestellt werden. Mehrere Ansätze für eine neue Kulturpolitik wurden in der Studie „Perspektiven der Kunst- und Kulturpolitik Wien 2010 – 2015 mit besonderem Fokus auf Migrationsrealität“ (1) aufgezeigt, die seit 2009 auf ihre Realisierung warten.
Damit die Empfehlungen nicht in der Schublade vermodern, gründen mehrere Kulturschaffende mit Migrationshintergrund dieser Tage eine Plattform: Kultur, Kunst und Theater für Alle! Anliegen werden weiterhin bei Entscheidungsträger_innen stark vertreten, und dabei wird Unterstützung durch jene Intellektuellen aus der Mehrheitsgesellschaft erwartet, die nicht einfach nur das Alte weiterdenken wollen (2).
Fußnoten
(1) Siehe: Studie
(2) Kontakt: @email
Ülkü Akbaba
ist Theater- und Kulturwissenschaftlerin, arbeitet als freie Regisseurin, Dramaturgin, Film- und Theaterautorin, Lehraufträge auf der Uni Wien – Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft.