Inventionen 2
Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig (Hg.): Inventionen 2. Exodus. Reale Demokratie. Immanenz. Territorium. Maßlose Differenz. Biopolitik. Zürich: Diaphanes 2012
Mit „Inventionen 2“ schafft eine transnationale Theorieallianz nicht nur eine kraftvolle und inspirierende Gesamtkomposition entlang poststrukturalistischer, (queer-)feministischer und postoperaistischer Theorieströme, die im deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht, sondern sie bringt die Theoriebildung da hin, wozu sie im besten Fall fähig ist: zu einer Artikulation, die der Widerständigkeit die Treue hält. Eine solche Theoriemaschine entreißt die Theoriebildung der akademischen Zähmung und der apolitisierenden Zurichtung gleichermaßen; sie rüttelt an kanonischen Verfestigungen und bricht Hierarchisierungen. Kurz: Sie schafft Öffnungen, die dazu einladen, sich der im Band versammelten Konzepte, Begriffe, Ideen und Kompositionen zu bedienen und sie erneut zu komponieren. „Inventionen 2“ will nicht ein für allemal im Büchergestell abgelegt werden. Es ist ein Buch, das in Griffnähe zu stehen hat, weil die Fülle an Denksubstanz schlicht die Wiederholungstat nahe legt.
Exodus, Immanenz, Territorium, Biopolitik – zentrale Begriffe poststrukturalistischer Provenienz werden von jeweils zwei Essays umspielt und mit einer konzisen Begriffseinführung eingeleitet. Diese säuberliche Aufteilung mag dem Buch eine didaktische Note verleihen – dieser Eindruck weicht jedoch rasch, wenn der Schreibfluss an Intensität gewinnt. Etwa dann, wenn das Territorium auf die räumlichen Praxen delinquenter und autistischer Kinder verweist, die der französischen Erzieher Fernand Deligny kartografisch verzeichnete. Es sind Praxen, die Zeugnis ablegen über „die Bedeutung eines Ausserhalb der Sprache, die Bedeutung von Zeichen, von Wiederholung und von Übergängen“. (Anne Querrien, S. 105) Oder dann, wenn der Exodus Gestalt annimmt in den Tumulten von London, Tunis, Rom, Madrid oder New York und sich durch „ein affirmatives Tun charakterisiert, das der Gegenwart einen sinnlichen und operativen Anstrich einprägt.“ (Paolo Virno, S. 26) Hier verschränkt sich eine avancierte theoretische Begriffsarbeit mit diversen politischen Praxen, am prominentesten jedoch mit den vielgestaltigen und über den Globus verteilten Besetzungsbewegungen des Jahres 2011.
Die Inventionskraft des Buches entfaltet sich dort am eindrücklichsten, wo die Invention bereits in den Begriff gesetzt ist: „Masslose Differenz“ nennt sich die ungestüme Neubestimmung, die dem poststrukturalistischen Differenz-Mantra einen entscheidenden Bruch zufügt: Das Maßlose ist unbestimmt und kontingent, unvorsehbar und überschüssig. „Masslose Differenz bezeichnet die unbestimmte Vielheit, die nicht vereinigte Mannigfaltigkeit.“ (Isabell Lorey, S. 154) Die Invention am Ort des Begriffs ist nicht nur in sich eine lustvolle Angelegenheit, sondern sie sucht wiederum neue Verbindungen. Dies multipliziert die Potenzialitäten und Interpretationsmöglichkeiten jener Texte, die mit dem Begriff korrespondieren. Der Auszug der italienischen Differenzfeministinnen aus der patriarchalen italienischen Gesellschaft Anfang der 70er Jahre lässt somit andere Lesearten zu, als die im feministischen Diskurs verhedderte Alternative zwischen einer „neutralisierten und assimilierten Gleichheitsvorstellung“ und einem Differenzansatz, der eine essenzielle Weiblichkeit festschreibt. „Es handelt sich dabei um einen Schnitt“, schreibt Ida Dominijanni, „der einen Raum eröffnet, der es ermöglicht, öffentlich zu handeln und über das zu sprechen, was verboten ist, unterdrückt und verleugnet wird.“ (S. 160)
Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig (Hg.): Inventionen 2. Exodus. Reale Demokratie. Immanenz. Territorium. Maßlose Differenz. Biopolitik. Zürich: Diaphanes 2012