Immer wieder falsch gelesen - Wie Scheherazade zur Aisha wurde

Fatma Haron schreibt über die stereotypisierenden Zuschreibungen von Frauen, die als Musliminnen gelesen werden. Es ist die Aufgabe von progressiver Kunst und Kultur, die Versäumnisse der kolonialen rassistischen Vergangenheit richtigzustellen und ein reflektiertes Narrativ an uns heranzutragen. Scheherezaden und Aishas brauchen keine Rettung. Sie sind imstande, sich selbst zu retten, jedoch nur wenn, wir endlich verlernen, sie falsch zu lesen.

Der neu herausgegebene Bericht der Dokustelle Österreich über antimuslimischen Rassismus verdeutlicht erneut, wie stark vor allem Frauen, die als Musliminnen gelesen werden, von rassistischen Angriffen betroffen sind. Nicht nur widerfährt diesen Frauen physische und verbale Gewalt, sondern sie werden auch mit falschen, stereotypisierenden Zuschreibungen in Verbindung gebracht. So werden beispielsweise viele mit dem Namen Aisha angerufen. Ihnen werden vermeintliche Attribute zugeschrieben, die inzwischen mit dem Namen Aisha verknüpft wurden: Assoziationen von Rückständigkeit, Unterdrückung und Passivität. Die historische Person Aisha ist (eigentlich) vor allem für ihren Intellekt berühmt.1 Dieser Aspekt ist jedoch im dominanten Narrativ über Aishas nicht vorhanden. Das politische und soziale Narrativ erzeugt stereotypisierende Bilder von vermeintlichen Aishas, die nicht in das dominante Werteverständnis „des Westens“ passen. Solche Bilder wurden unter anderem durch Kunst und Kultur verstärkt.

Ein Beispiel hierfür ist Scheherazade aus 1001 Nacht. Als im 19. Jahrhundert dieses Werk der Weltliteratur ins Deutsche übersetzt wurde, wurden Themen wie Erotik, verführerische Frau und der Reichtum des Mannes stark hervorgehoben, um den Orient als den fremdartigen „Gegenpart“ des Westens darzustellen. Die Pointe der Märchenerzählung ist zügelloser Sex, patriarchale Selbstjustiz, Frauenfeindlichkeit und Exotisierung des sogenannten Orients. Hierbei ist zu erwähnen, dass im 19. Jahrhundert sexuelle Enthaltsamkeit dem damaligen Zeitgeist entsprach. Der aktuelle Diskurs illustriert uns hingegen einen Paradigmenwechsel – demnach gilt momentan alles, was muslimisch ist, als sexuell prüde, unterdrückt und unterentwickelt. In 1001 Nacht wird Scheherazade mit dem König vermählt, der im Vorfeld seine Frau und seinen Sklaven in flagranti ertappt und daraufhin geköpft hatte. Der König heiratet daraufhin täglich von neuem und lässt die jeweilige Braut in der Hochzeitsnacht töten. Sein Motiv ist die tiefe Verachtung der Frauen, da diese seiner Meinung nach nur verführen, untreu und schlecht seien und daher kein Recht zum Leben haben. Der König handelt hier affektiv, temperamentvoll und misogyn. Scheherazade hingegen gelingt es, in der Hochzeitsnacht nicht ermordet zu werden, indem sie ihm eine fortlaufende Geschichte erzählt. Jedes Mal gegen Ende der Nacht hört sie genau an der spannendsten Stelle der Erzählung auf, sodass der König – neugierig auf das Ende der Geschichte – sie am Leben lässt und sich schließlich sogar in sie verliebt. So präsentiert sich Scheherazade als eine sehr intelligente Frau, die auch gleichzeitig einen feministischen Aktivismus darlegt, da sie Femizide beendet. Darauf wird in dem Märchen jedoch nicht eingegangen.

Die Rolle des Opfers, die auf die fiktive Person Scheherazade zugeschnitten ist, übernimmt in der Gegenwart die stereotypisierte Muslima „Aisha“, die Opfer von Ehrenmorden und häuslicher Gewalt wird. Auf subtile Weise werden Bild und Narrativ einer passiven Muslimin als Opfer gezeichnet, welche unhinterfragt als Normen gelesen werden. Diese problematischen Stränge der Ungleichheit und Gewalt an Frauen existieren aber unabhängig von Ethnizität und religiösen Zugehörigkeiten. An dieser Stelle müssen die Femizide in Österreich erwähnt werden, die im Jahr 2022 bereits unzähligen Frauen das Leben gekostet hat. Negative Narrative und Bilder in unserer heutigen Zeit über sogenannte MigrantInnen, Zugewanderte und MuslimInnen in Kunst und Kultur können auf hegemoniale Herrschaftsstrukturen des Kolonialismus zurückgeführt werden. Historisch betrachtet diente dies dazu, die koloniale Ausbeutung, Missionierung, Ausgrenzung und Vernichtung zu legitimieren. Dabei werden negative Assoziationen herangezogen, die das Gegenbild als weniger entwickelt, unzivilisiert, irrational, primitiv und unaufgeklärt und als „das Andere“ darstellen. Eine klare Trennung zwischen einem „Wir“ und „den Anderen“ wird erzeugt, welche normativ aufrecht erhalten bleibt und sich implizit in unseren Alltag einschleicht. Der Diskurs ist in unserem Alltag so integriert, dass vieles „normalisiert“ und mit der Antwort „das ist halt in muslimischen Kulturen so“ abgetan wird. Dabei wird aber der fatale Fehler begangen, Millionen von Musliminnen aus unterschiedlichen Ländern und sozialen Schichten nicht nur zu homogenisieren, sondern auch zu essentialisieren und sie auf eine vermeintlich einheitliche Kultur zu reduzieren. Diese orientalistische Lesart rechtfertigt strukturelle und systematische Ausgrenzungen mit Ängsten und Unsicherheiten. Daher werden Rassismen gegenüber Fremden als Xenophobie oder Islamophobie pathologisiert. Nur so ist es möglich, den Diskurs eines weißen christlichen Europas aufrecht zu erhalten und als Norm zu konstatieren. „Scheherazaden“ und „Aishas“ werden nicht nur rassistisch exkludiert, sondern es gilt auch die arrogante Prämisse, sie zu retten und zu emanzipieren!

Es spielt also in diesem rassistischen Orientalismus-Karussell nicht nur das Problem von hegemonialem Postkolonialismus mit, sondern auch der „white savior Komplex“2. Auch Teile des weißen Feminismus sind darin verstrickt, wenn sie es nicht schaffen, sichtbare Musliminnen zu inkludieren und ihnen stattdessen Freiheit und Emanzipation absprechen und das Kopftuch als Synonym für ‚politische Integrationsverweigerung der zweiten Generation‘ deklarieren. Indem alles, womit sie sich identifizieren, als das „monströse Gegenüber“ debattiert und ihre „Identitäten“ in Frage gestellt wird, wird dabei vielen Musliminnen nicht nur der freie Wille abgesprochen, sondern auch ihre Zugehörigkeit und materielle Teilhabe in der Gesellschaft. Jedoch sind es der Freiheitsgedanke, die Emanzipation und der Individualismus, der viele Musliminnen zu der Entscheidung bringt, sich zu kleiden, wie sie möchten. In einer postmigrantischen Gesellschaft haben es Individuen mit mehreren transnationalen Zugehörigkeiten ohnehin schwer, sich mit „unkonventionellen“ Identitäten in diesem Identitätenkorsett ständig neu zu definieren und zu rechtfertigen – da ist die Position der marginalisierten Frau noch komplexer. Ihr wird nicht nur die Zugehörigkeit abgesprochen und die Identität in Frage gestellt, sondern sie wird auch in eine Opferrolle gedrängt, des Passivismus bezichtigt, sexualisiert und gleichzeitig der Undankbarkeit beschimpft, wenn sie die Hilfe zur Emanzipation und Befreiung ablehnt.

Die machtvolle Wirksamkeit von Kunst und Kultur Bilder und Narrative zu kreieren, zeigt sich an Werken wie Othello, Orlando oder eben auch 1001 Nacht. Daher ist es unabdingbar, im Kulturbereich weitere und differenziertere Porträts von vermeintlichen Aishas zu repräsentieren. Es müssen mehr Räume und Bühnen für Künstler und Künstlerinnen geschaffen werden, die zu einer intersektionalen Perspektive beitragen. Ein Beispiel hierfür ist die Ausstellung Muslim Contemporary. Diese Ausstellung wäre beinahe seitens der Politik verhindert worden, was exemplarisch den problematischen Diskurs zu fehlender kritischer Diversität im Bereich Kunst und Kultur illustriert. Folglich können Kunst und Kultur nicht nur unterhalten, sondern auch sozialisieren und differenzierte Bilder an uns herantragen. Scheherezaden und Aishas brauchen keine Rettung. Sie sind imstande, sich selbst zu retten. So lange sie nicht bevormundet werden und wir endlich verlernen, sie falsch zu lesen, wird das machbar sein. Dies kann durch progressive Kunst und Kultur, die die Versäumnisse der kolonialen rassistischen Vergangenheit richtigstellt und ein reflektiertes Narrativ mitgründet, weitgehend geschehen. Daher: Wieso nicht ein anderes Bild erzeugen als das der passiven, unterdrückten Muslima?

1 Bei der historischen Person Aisha handelt es sich um Mohameds Tochter, die viel islamische Lehre übermittelt hat und auch für ihren Intellekt in muslimischen communities bekannt ist

2 Der Begriff „white savior complex“ von Teju Cole geprägt, bezeichnet das Phänomen des weißen globalen Nordens den globalen Süden durch Entwicklungs- oder Aufklärungsarbeit zu retten und kann auf hegemoniale Strukturen einer Dominanzkultur zurückgeführt werden