Drogen der Beschleunigung
Mit „Speed. Eine Gesellschaft auf Drogen“ stellt der Hamburger Künstler und Kritiker Hans-Christian Dany eine erstaunliche Materialsammlung der mannigfaltigen Aspekte des Drogengebrauchs zur Verfügung.
Mit „Speed. Eine Gesellschaft auf Drogen“ stellt der Hamburger Künstler und Kritiker Hans-Christian Dany eine erstaunliche Materialsammlung der mannigfaltigen Aspekte des Drogengebrauchs zur Verfügung. Vielleicht könnte hier sogar das alte Wort von der „Kulturgeschichte“ eine zutreffende Bestimmung erhalten – keineswegs allerdings im Sinne der „Kulturgeschichten“ alternder deutscher Großphilosophen und Kulturwissenschafter. Viel eher entfaltet sich Danys ausgezeichnet recherchierte und großartig geschriebene Kulturgeschichte der Amphetamine als weit gefächertes Gefüge der Geschichten aus dem Kunstfeld, der populären Aufarbeitung chemischer Sachverhalte, der neueren Pop- und Filmgeschichte, der Kritik der Pharma-Industrie und anderer militärisch-ökonomischer Komplexe, der Modegeschichte, der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts und vieler weiterer Komponenten eines ausufernden Speed-Dispositivs. Die Entfaltung dieser vielen Stränge gestaltet sich nur deswegen nicht unproduktiv zerfasert, weil Dany formale Mittel und Schreibkompetenzen einzusetzen weiß, die im Genre der Kulturgeschichte sonst äußerst rar zu finden sind. Im Wesentlichen sind dies zwei Methoden, die abwechselnd in kurzen Kapiteln zum Einsatz kommen: einerseits die kurzweilig journalistische Verarbeitung, die auch komplexere Sachverhalte nicht ins Unverständliche abdriften lässt; andererseits – und das ist Danys hervorstechendste Qualität als Autor – eine Praxis der poetischen Ekphrasis, der dichterisch-dichten (Bild-)Beschreibung, wie man sie sich etwa im Genre der Kunstgeschichtsschreibung oft wünschen würde. Die Kompetenz des unpathetischen Abtastens von Materialität und Sinnlichem teilt Dany durchaus mit Vorgängern aus dem Fach der Popgeschichte, etwa Greil Marcus, aber er geht darüber hinaus. Ein Anspieltipp für diese avancierte Schreibweise wäre gleich der Beginn des Buchs, vorsichtig sich vortastend in Praxis und sinnliche Effekte des Amphetamin-Gebrauchs und gegen Ende dieser Sequenz immer mehr beschleunigend in den Speed eines zu schnell eingestellten Herzschrittmachers ...
Für die Lektüre des Buchs bedarf es keinerlei Vorwissens, weder naturwissenschaftlich-pharmazeutischen Geheimwissens noch irgendwelcher Insider-Sprachen von Drogengebrauchenden entlang der letzten eineinhalb Jahrhunderte; Dany liefert Lehrreiches in schier endlosen Stories und doch in kompakter Form: von der Entdeckung des Amphetamins durch den rumänischen Chemiestudenten Lazar Edeleanu im Jahr 1887 und seiner sehr langsamen Verwandlung zum Gebrauchsgegenstand zwischen den Weltkriegen, über den Einsatz in eben diesen Kriegen als Verbesserungsmethode des soldatischen Körpers und damit zur militärischen Leistungssteigerung vor allem der NS-Kriegsmaschinerie, über die Ausbreitung der ausgemusterten Verbesserungsdrogen in die Zivilbevölkerung, über die Amphetamin-getriggerten Musik- und Partystile des Northern Soul der späten 1960er und der Techno- und Rave-Generationen der späten 1980er und 1990er, bis hin zur Entwicklung von Sexdrogen in den 2000ern und schließlich zu heutigen Praxen der biopolitischen Selbstmedikation, die prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen als Krankheit behandeln. Dieser langen Reihe der sich verändernden Gebrauchswerte von Speed, Acid, Amphetamin als Medikament, Rauschmittel, Waffe, Medium werden Geschichten zu Entwicklung und Funktion von LSD, Kokain und Heroin beigestellt, um damit nicht zuletzt auch implizit die Dekonstruktion und Falsifizierung der „so nachhaltige[n] wie haltlose[n] These einer Wechselwirkung von Rausch und Verbrechen“ zu betreiben. Vor diesem Hintergrund einer breiteren Kulturgeschichte des Drogengebrauchs findet Dany seine bemerkenswertesten Beispiele vor allem im Fundus der Geschichte der Kunstpraxen des 20. Jahrhunderts. „Kunstgeschichte“ erscheint hier allerdings durchgehend mit Aspekten der politischen Geschichte durchwirkt, und in dieser spezifischen Verzahnung von Kunst und Politik wird es möglich, ästhetische und politische Problemstellungen als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen: der Technik- und Geschwindigkeitsrausch der Futuristen und die Geburt des Fordismus als doppeltes Ineinandergreifen von Mensch und Maschine; die Ekstasen der Berliner Ausdruckstänzerin Anita Berber und die Ambivalenz von Frauenbildern im Zustand höchster Erregung und in jenem gezielter Selbstzerstörung; Judy Garlands Amphetamin-Geschichte von den appetitzügelnden Tabletten, die den kindlichen Körper der Heldin von The Wizard of Oz klein halten sollten, bis zum in der Woche nach ihrem Tod einsetzenden Stonewall Riot in Greenwich Village, der Garland als Ikone der Homosexuellen-Bewegung und den Beginn der weltweiten Revolte der Schwulen und Lesben gegen ihre Unterdrückung verkettet; Elvis Presleys Doppelrolle als Drogentoter und Drogenfahnder und die Funktion der Drogenpolitik in der Kontrollgesellschaft; William Gibsons Neuromancer und der Übergang vom on the road-Pathos der Beat Generation zur online-Abhängigkeit der Elektropunks und digitalen Boheme als UnternehmerInnen ihrer selbst; schließlich die namenlose Techno-Welt der späten 1980er und ihre Gemeinschaftsillusion, die hauptsächlich in der Spiegelung der einzelnen Techno-Tänzerin bestand.
Der poetisch-journalistische Stil Danys erfährt gerade in dieser Verzahnung von politischer und künstlerischer Geschichte seine Höhepunkte, aber auch seine aus meiner Perspektive einzig problematische Komponente: Während das Buch im Großen und Ganzen durchdrungen ist von einem distanzierten, nicht pathetischen noch essenzialisierenden Gestus, der die problematischen Muster nicht nur der moralisierenden Bekämpfung, sondern auch der euphorischen Affirmation von Drogen souverän umgeht, zeigen sich in der zweiten Hälfte des Buchs Spuren einer melancholischen Variante jener Euphorie. In den Kurzgeschichten zu den Drogenerfahrungen von Johnny Cash, Andy Warhol und John Lydon wiederholt sich eine alt bekannte tragische Figur: Gerade in der und durch die Drogenerfahrung findet der Künstler seinen Stil – um ihn ohne die Droge notwendigerweise auch wieder zu verlieren. Es ist wohl auch kein Zufall, dass, im Gegensatz zur Genderbalance des gesamten Buchs, nur männliche Künstler in den Genuss dieser Epiphanien durch die Droge kommen. Im Falle von Cash scheint sich Dany der Narration von dessen Biografen anzuschließen, dass Cashs Jahrzehnt auf Drogen zugleich das dunkle Kapitel seines Lebens war wie auch diejenige Zeit, in der er zu seinem unverwechselbaren Stil fand, den er dann ein ganzes langes Leben lang gleichsam nur noch zitieren musste. Beim Pop-Art-Fabrikanten Warhol ist ohne Gift „etwas Entscheidendes“ „auf der Strecke geblieben“: An einem bestimmten Punkt muss er feststellen, „dass sich in der Kunst eine spezifische Energieform abbildet, die kaum zu berechnenden Gesetzen folgt. Amphetamin formt einen seiner Schlüssel zu dieser geheimnisvollen Quelle, mit ihrem blendenden, seltsam unfassbaren Überschuss, ein Zugang, den er jetzt nicht mehr benutzen kann.“ Nach seiner Amphetamin-Zeit habe Warhol zwar härter gearbeitet, sein Beitrag zur Kunstgeschichte sei aber zu dieser Zeit schon geleistet gewesen. Und auch bei der Sex Pistols-Karriere John Lydons alias Johnny Rottens geht analog dazu seiner Entwöhnung von Amphetamin die Rede von einem unbedeutenden Werk: „Die Gabe hat ihn verlassen.“ Geheimnis, Energie, Gabe, all diese Aspekte der Genielehre des 19. Jahrhunderts erscheinen als die Spurenelemente einer Vermischung der euphorischen Linie des kreativen Drogen-Narrativs und jener hartnäckigen Kunstfeld-Konstruktionen, die so gerne die Affekte und Perzepte vom Kognitiven und Konzeptuellen, den Rausch von der ratio, die Gefühle vom Denken, oder noch altmodischer: den Körper vom Geist trennen. Das sind durchaus überraschende Abweichungen in einem Buch, das ansonsten so sehr durch seine nicht-dichotome, unpathetische Schreibweise überzeugt.
„Speed“ ist theoretisch wahrscheinlich dort am interessantesten, wo es um die Übergänge vom historischen Paradigma des Fordismus hin zu Konzeptualisierungen der Gegenwart geht. Die stärkste Stelle, die Dany explizit einer diesbezüglichen begrifflichen Benennung widmet, ist ebenso vorsichtig formuliert wie sprachlich genau gelungen: „Für das, was als Zukunft anbricht, wird der Begriff Postfordismus erfunden – ein sprachliches Danach, das verstockt am Ausgang der Vergangenheit zu stehen scheint und nur ganz scheu an die Tür des Künftigen klopft, weil es sein altes Zuhause nicht mehr gibt.“ Gerade diese Schwelle vom Fordismus zum Postfordismus ist zentral für die Veränderung von Funktion und Gebrauch der Drogen. Dany beschreibt das detailliert an der postfordistischen Avantgarde von Warhols Factory und an deren „Pionieren der neuen Arbeit“, die keine Dinge mehr herstellen, sondern Atmosphären: „... die Mehrheit der Anwesenden beschäftigt sich mit Tätigkeiten, die nicht unmittelbar als Arbeit erkennbar sind und meist wie das Gegenteil aussehen, so dass manche es für eine Party halten.“ Nicht mehr auf der Trennung von Arbeit und Freizeit, Leistung und Muße, Nüchternheit und Drogenkonsum basiert dieser neue Modus der Indienstnahme, sondern gerade auf dem Verschwimmen beider Bereiche. Speed gelangt aus der absichtsvollen Randständigkeit ins Zentrum postfordistischer Produktion und breitet sich weit über die marginalen Drogengebrauchenden hinaus aus, als Abhängigkeit von allen Sorten der Beschleunigung, auch als Ab-hängigkeit vom An-hängen an beschleunigte Kommunikations- und Informationstechnologien. Gerade in dieser komplexen Lage hilft vielleicht jene spezifische Methode des Widerstands, die Hans-Christian Dany in einem frühen Kapitel als „Licht der Zweckentfremdung“ beschreibt: die Produkte – nicht nur – pharmazeutischer Technologie nämlich gegen den vorgesehenen Zweck zu gebrauchen: „Erklärt die dem Medikament beigefügte Bedienungsanleitung, der Benutzer solle einen Stift zum Inhalieren in zwei Tagen verbrauchen, vertauscht dieser einfach die beiden Zahlen, inhaliert zwei Stifte an einem Tag, und der Körper summt eine strahlende Melodie. Inhaliert der Benutzer einen dritten Stift, bringt ihn die Dosis zum Tanzen.“ Missachtung der Bedienungsanleitung, Übererfüllung der Aufgabe als KonsumentIn, ungeplante Herstellung von Gebrauchswerten vorhandener Produkte, ProduzentIn-Werden, solch von Dany angeführtes „widerständiges Potenzial“ der Zweckentfremdung mag ein auch und gerade im beschleunigten kognitiven Kapitalismus ab- und aufrufbares Kapital sein. Fragt sich nur, ob Amphetamine in der Zukunft dessen Rohstoff darstellen …
DANY, HANS-CHRISTIAN (2008): „Speed. Eine Gesellschaft auf Drogen“ Hamburg: Nautilus Verlag
Gerald Raunig ist Philosoph und arbeitet am eipcp in Wien.