Die Kunst des Protests

2011 wird als das Jahr der politischen Unruhen in die Geschichte eingehen, als Jahr des internationalen Aufbegehrens, unterstützt durch die Möglichkeiten der Social Media. Weltweit gingen Menschen auf die Straßen, forderten Gerechtigkeit und Menschenrechte, protestierten gegen die Globalisierung.

Ein Gespräch mit Oliver Ressler über kulturelle Formen des Widerstands. 

2011 wird als das Jahr der politischen Unruhen in die Geschichte eingehen, als Jahr des internationalen Aufbegehrens, unterstützt durch die Möglichkeiten der Social Media. Weltweit gingen Menschen auf die Straßen, forderten Gerechtigkeit und Menschenrechte, protestierten gegen die Globalisierung: Vom Arabischen Frühling bis zu den Streiks gegen die Sparpakete in Griechenland, Spanien, Italien und anderen Ländern des Euroraums, von Kampagnen in Großbritannien gegen Studiengebühren oder Streiks gegen Rentenkürzungen zur Occupy Wallstreet-Bewegung gegen die Gier der Großkonzerne. Und der Protest geht weiter.

Das nachstehende Gespräch wurde in der Folge einer Diskussionsveranstaltung mit Katarzyna Kosmala und Oliver Ressler im Centre for Contemporary Art in Glasgow geführt. In der Reflexion von Oliver Resslers neuen Filmarbeiten Socialism Failed, Capitalism is Bankrupt. What Comes Next? und Comuna im Aufbau untersucht es die Rolle politischer Kunstpraxen für Protestbewegungen und Menschenrechtsfragen. Die Filme waren im Rahmen des Document 9-Filmfestivals am 21. Oktober 2011 in Glasgow gezeigt worden. Das Filmfestival, eine renommierte jährliche Veranstaltung, hat sich zu einer Plattform für die Diskussion über Möglichkeiten der Gleichheit entwickelt und inspiriert Visionen eines gerechten gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der während der Document begonnene Gedankenaustausch setzte sich gleich nach der Veranstaltung im Netz fort.

Katarzyna Kosmala: Protest ist nicht notwendigerweise ein rein politisches Statement; Protest kann auch als kulturelle Form von Widerstand gelesen werden. So lohnt es sich zum Beispiel, darüber nachzudenken, ob die Geste oder gestische Formen des Ausdrucks wirklich etwas verändern können. Du hast seit 1994 diverse Ausstellungen und Projekte im öffentlichen Raum realisiert bzw. Filme produziert, die Formen des Widerstands der vergangenen 20 Jahre zum Thema haben. Du behandelst in deiner Arbeit soziopolitische und ökonomische Alternativen. Ausgehend von deiner eigenen Kunstpraxis: Wie siehst du die Rolle der Kunst für den Protest?

Oliver Ressler: Ich glaube, dass Kunst eine zentrale Funktion für die Analyse einer gegenwärtigen politischen und ökonomischen Situation haben kann, indem sie Kritik formuliert, sich mit bestehenden sozialen Bewegungen in Beziehung setzt und indem sie über alternative Wege nachdenkt, wie wir unsere Gesellschaften organisieren können. Im direkten Zusammenhang mit Protest kann Kunst vielfältige Rollen spielen: Eine der zentralen Ideen meiner künstlerischen Praxis ist es, den ProtagonistInnen der weltweiten sozialen Bewegungen eine Stimme zu geben und durch meine Arbeit einen entsprechenden Raum zu schaffen, wo diese Stimmen (an)gehört werden können. Ich bin nicht an einem ausbalancierten, „neutralen“ Blickwinkel interessiert (von dem manche Medienformen behaupten, er existiere!), sondern an einem Blickwinkel, der sich aus dem Inneren heraus entwickelt oder zumindest einem Blickwinkel, der aus der Teilhabe und Solidarität, im Speziellen mit linken sozialen Bewegungen heraus entsteht. Meine Arbeiten sind formal oft als Filmproduktionen angelegt. Mir liegt etwas an der Herstellung konkreter Instrumente, die die Bewegungen für Analyse, Bildungsarbeit und Mobilisierung nutzen können, und daran, über die Herstellung eines Films dazu beizutragen, dass die Ziele und verstreut weltweit stattfindenden Aktionen gemeinsam dargestellt und international sichtbar gemacht werden können. Meine Filme über die globalisierungskritischen Bewegungen, etwa This Is What Democracy Looks Like!, Disobbedienti und What Would It Mean to Win? wurden von den Bewegungen vielfach zur Information und Mobilisierung kommender Demonstrationen und Aktionen gegen G8, WTO, IWF oder WEF genutzt. Genauso habe ich für die globalisierungskritische Bewegung Banner und Plakate entworfen, die der Mobilisierung für die Demonstrationen und Blockaden beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 dienten. Ich denke aber, dass Kunst sich nicht auf Aufgaben wie das Schaffen von Objekten oder die Bereitstellung von Bildmaterial beschränken sollte; KünstlerInnen sollten Aktivismus auf verschiedenen Ebenen mit organisieren und verbreiten. Als langfristiges Ziel sehe ich eine Überwindung dieser Grenzen zwischen Kunst und Aktivismus.

Sowohl in Socialism Failed, Capitalism is Bankrupt. What Comes Next? als auch in Comuna im Aufbau lassen uns die ProtagonistInnen an ihren persönlichen Erfahrungen von Krise und Wandel teilhaben. Die BetrachterInnen erhalten einen Einblick in die alltäglichen Überlebenskämpfe. Beide Filme sind in prekären Kontexten angesiedelt, in Armenien auf dem größten Basar von Jerewan bzw. in den Armenvierteln an den Hängen von Caracas und in den ländlichen Gebieten Venezuelas. Du hast gesagt, dass Filmemachen dich wirklich interessiert. Mich würde ein Blick auf deine Annäherung an die Filmproduktion interessieren, speziell in Hinblick auf den Prozess des Filmens selbst und den der Nachbearbeitung.

Die Produktionsprozesse von Socialism Failed, Capitalism is Bankrupt. What Comes Next? und Comuna im Aufbau waren sehr verschieden. Socialism Failed … basiert auf Interviews mit den verarmten HändlerInnen eines Basars in Jerewan zu ihren schwierigen Lebens- und Arbeitsumständen bzw. zu ihren Hoffnungen auf Veränderung. Das Grundgerüst für Comuna im Aufbau bilden Aufnahmen von Versammlungen und Projektbesprechungen der Kommunalen Räte in Venezuela, die von den Menschen selbst in einem Akt der Selbstermächtigung organisiert worden waren. Es gibt natürlich einen großen Unterschied zwischen dem Prozess des Filmens in Venezuela, wo wir etwa mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung gearbeitet haben und dem von den Interviews ausgehenden Ansatz in Armenien. Bei Comuna im Aufbau, den ich mit dem Politikwissenschaftler Dario Azzellini als Co-Regisseur (als dritte Zusammenarbeit zu den politischen Prozessen in Venezuela seit 2004) realisiert habe, stand mir ein fünfköpfiges Team zur Verfügung. Wir wollten so viele Versammlungen wie möglich in einem Zeitrahmen von wenigen Wochen mitfilmen, um dann während eines längeren Schnittprozesses den Film aus diesem Material heraus zu erarbeiten. Bei Socialism Failed … hingegen hatte ich fast kein Budget und arbeitete alleine mit der armenischen Aktivistin Arpineh Galfayan zusammen, die für mich die Interviews führte und übersetzte.

Wenn wir uns die jetzige politische Situation ansehen und die Formen des Protests, mit denen auf sie reagiert wird: Was wir heute auf internationaler Ebene beobachten können, sind politische Aktionsformen bzw. Formen des Protests, die global ausgerichtet sind, so wie etwa Occupy Wall Street. In Comuna im Aufbau stellst du ein sozialpolitisches Experiment vor, das die Grenzen von Demokratie austestet. Wie kann – von den Schnittstellen zwischen Kunst und Politik aus – dazu beigetragen werden, einen Sinn für Gemeinschaft aufzubauen, speziell unter denen, die sich marginalisiert und vernachlässigt fühlen?

Im Moment kämpfen im Rahmen der Occupy-Bewegung in hunderten Städten weltweit AktivistInnen für eine Änderung des Systems, und zwar in eine Richtung, die ihre sozialen und politischen Bedürfnisse mehr berücksichtigt. Das ist etwas, was die marginalisierten Menschen in Venezuela schon erreicht haben, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Was heute in Venezuela passiert, bewegt sich bereits weit jenseits von einem demokratischen System, wie wir es in der Europäischen Union oder in den USA haben.

In Venezuela bezeichnen die Menschen ihr System als eine „partizipative und protagonistische Demokratie” und versuchen, einen „Sozialismus für das 21. Jahrhundert“ zu entwickeln. Aus diesen Erfahrungen zu lernen, wäre meines Erachtens eine wertvolle Erfahrung für die Occupy-Bewegungen. Und Filme wie Comuna im Aufbau könnten dabei sicherlich eine Rolle spielen.

Das Auftauchen einer internationalen Protestbewegung ohne kohärentes Programm und ohne Führungsebene verweist in gewisser Weise auf ein Problem, das noch grundsätzlicher ist als das der globalen Wirtschaftskrise. Es geht um das Versagen der auf Rechtsstaatlichkeit basierenden Demokratie. In deinem Projekt Alternative Economics, Alternative Societies untersuchst du die Grenzen der Demokratie. Die repräsentative Demokratie funktioniert innerhalb klar definierter Grenzen und zwischen Menschen, die Teil derselben Gruppe oder Nation sind. Wie können wir aus einer globalen Perspektive heraus eine „globale Gemeinschaft“ ansprechen, die auf demokratischen Prinzipien basiert?

Eine der vielen Erkenntnisse aus meinem Langzeitprojekt Alternative Economics, Alternative Societies ist, dass es den einen gemeinsamen Weg, wie Gesellschaft und Wirtschaft demokratischer gestaltet werden können, nicht gibt. Das ist auch gut, weil so Raum bleibt für die ProtagonistInnen fortschrittlicherer Kämpfe um eine Neuordnung der Gesellschaften entlang der eigenen Anforderungen und Wünsche. Es ist daher auch sehr wichtig, dass die Occupy-Bewegung keine kohärente Programmatik entwirft, weil das etwas ist, das sich durch einen Prozess der Partizipation entwickeln muss. Die Occupy-AktivistInnen sind über hunderte Städte, über die ganze Welt verteilt; sie kooperieren etwa bei der Umsetzung weltweiter Aktionstage (wie dem 15. Oktober 2011), aber ihre Organisationsstrukturen bzw. Meinungsbildungsprozesse unterscheiden sich stark voneinander. Und das ist wunderbar: Während für eine Gruppe konsensuelle Entscheidungen passend sind, können für eine andere Gruppe Versammlungen, in denen mit Mehrheitsentscheiden gearbeitet wird, mehr Sinn machen.

Kannst du abschließend etwas zur Rolle der Dokumentation im Prozess der Intervention bzw. im Kampf gegen eine Weltwirtschaft unter der Herrschaft der kapitalistischen Märkte sagen, insbesondere unter Berücksichtigung sich entwickelnder multipler Formen des weltweiten Protests?

Für mich liegt die Rolle der Dokumentation im Sichtbarmachen von Formen der Dissidenz und des Widerstands, darin, ein Instrument zu entwickeln, das Aktivitäten und Diskussionen von einem Ort an einen anderen trägt, so dass sie untersucht und kritisiert werden können, so dass aus ihnen gelernt werden kann. Im Idealfall ist das ein produktiver Prozess, der zu weiteren dissidenten und widerständigen Handlungen in anderen Zusammenhängen und an anderen Orten führen kann: damit aus isolierten lokalen Aktivitäten eine Bewegung entsteht – eine globale Bewegung, die größer und immer einflussreicher wird. Wahrscheinlich erreichen die meisten Dokumentationen nicht eine derartige Wirkungsmacht, und wenn, wäre es schwer zu beweisen. Aber ich mag dieses Potenzial, das kritischen Filmen innewohnt: dokumentarische Formate zu nutzen, um das Neue, das Unerwartete und das nicht Vorstellbare voranzutreiben, das die Gleichgültigkeit und Tödlichkeit der kapitalistischen Wirklichkeit herausfordert und ihr entgegentritt.

Katarzyna Kosmala ist Kuratorin, Kunstkritikerin und Dozentin für Visual Culture and Organization an der University of the West of Scotland. Sie forscht zu Identitätspolitiken in der (visuellen) Gegenwartskultur, alternativen Organisationsformen sowie zu Werten, Ästhetik und künstlerischer Arbeit.

Oliver Ressler ist Künstler und Filmemacher, er lebt und arbeitet in Wien. In Zusammenarbeit mit Gregory Sholette kuratiert er die Ausstellung It´s the Political Economy, Stupid im THESSALONIKI CENTER OF CONTEMPORARY ART in Griechenland (2012) bzw. im PORI ART MUSEUM in Finnland (2013). www.ressler.at

Übersetzung aus dem Englischen: Patricia Köstring

Danksagung

Autorin und Interviewpartner bedanken sich beim Document-Filmfestival, das die Veranstaltung ermöglicht hat und hier insbesondere bei Neill Patton und Katie Bruce. Dank für die Unterstützung gilt dem UWS und dem ACF in London bzw. John Mullen für die Hilfe bei der Erstellung des Texts.