"Schwere Sachbeschädigung oder notwendige Ergänzung eines gefälschten Zitats?" Eine künstlerische Intervention wider das Vergessen und Verstecken von Vergangenheit in Österreich.
Mittwoch, 29. August 2001. Salzburg, Neue Residenz, Kaigasse 2. Wolfram P. Kastner und Martin Krenn ergänzen im Rahmen des Projekts "Rückgabe" mit Studierenden der "Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg" das Zitat auf der Gedenktafel für Theodor Herzl um einen entscheidenden Satz aus Herzls Tagebuch. Während auf der Tafel ausschließlich geschrieben steht "In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu", fügen die KünstlerInnen folgenden Nachsatz handschriftlich hinzu: "Ich wäre auch gerne in dieser schönen Stadt geblieben; aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden."
Mittwoch, 29. August 2001. Salzburg, Neue Residenz, Kaigasse 2. Wolfram P. Kastner und Martin Krenn ergänzen im Rahmen des Projekts "Rückgabe" mit Studierenden der "Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg" das Zitat auf der Gedenktafel für Theodor Herzl um einen entscheidenden Satz aus Herzls Tagebuch. Während auf der Tafel ausschließlich geschrieben steht "In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu", fügen die KünstlerInnen folgenden Nachsatz handschriftlich hinzu: "Ich wäre auch gerne in dieser schönen Stadt geblieben; aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden."
Drei Tage später war die Zitatergänzung an der Hausfassade bereits fein säuberlich übermalt, und die Salzburger Liegenschaftsverwaltung erstattete Anzeige gegen Wolfram P. Kastner wegen schwerer Sachbeschädigung. Potentielles Strafausmaß: bis zu drei Jahre Haft oder 350 Tagessätze. Der Startschuss zu einer großen Welle des Protests war damit gegeben. Zwei Angriffsflächen stehen dabei zur Wahl: Auf der einen Seite die Stadt Salzburg als Verantwortliche für den Text der Tafel, auf der anderen Seite das Land Salzburg (i.e. die Liegenschaftsverwaltung des Landes) als Anzeigenerstatter. Diese Zweiteilung der Verantwortung für den Eklat spiegelt sich anschließend augenfällig in den diversen Antwortschreiben der angegriffenen AdressatInnen wider. Während die einen auf ihre Machtlosigkeit bezüglich einer Einflussnahme auf das Strafverfahren verweisen, beteuern die anderen, nichts mit der Auswahl des Textes am Hut zu haben.
Woher stammt also das Zitat? Wer zeichnet für den Text der Tafel verantwortlich? Der Anbringung der Gedenktafel durch die Stadt Salzburg am 18. Juli 2001 ging ein etwa eineinhalbjähriger Entscheidungsfindungsprozess voraus. Salzburgs Bürgermeister Heinz Schaden (SP) hat in einer Stellungnahme die Chronologie zur Entstehung der Gedenktafel für Theodor Herzl kurz umrissen und dabei die Einbeziehung der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg ausdrücklich betont. Schon im ersten Schriftverkehr vom 8.2.2000 wurde der Stadt Salzburg das Zitat "In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu" neben biographischen Daten Herzls als Wunschtext für die Gedenktafel vorgeschlagen. Betreiber ist Gottfried Tichy, als weiterer Ansprechpartner für die Stadt Salzburg wird Marko Feingold (Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg) hinzugezogen. Neben der gemeinsamen Suche nach einer geeigneten Platzierung wurde auch der Wortlaut der Tafel mehrfach diskutiert. Als im April 2001 Clemens Hutter in einem kritischen Schreiben an das Kulturamt der Stadt Salzburg auf die bedenkliche Entkontextualisierung des Zitats und das Fehlen des Nachsatzes "Ich wäre auch gerne in dieser schönen Stadt geblieben; aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden" hinweist, sprechen sich Tichy und Feingold weiterhin für den ursprünglich vorgeschlagenen Text und gegen eine Zitatergänzung aus. Feingold hält auch heute - nach der handschriftlichen Erweiterung im August 2001 und der seither umfangreich geführten Diskussion - an diesem Standpunkt fest. Die Zitatergänzung sei kontraproduktiv und geeignet für antisemitische Reaktionen. "Wenn ich als Jude mit so einer Tafel einverstanden bin, können das andere auch sein", argumentiert Feingold für die Richtigkeit der Textauswahl und zitiert eine Festschrift der Israelitischen Kultusgemeinde aus dem Jahr 1968 , in der ebendieses Zitat (ohne relativierenden Nachsatz) auch schon Verwendung fand. Herzl beschreibt in der angeführten Tagebucheintragung seine Eindrücke von der Stadt (die wunderbare Lage, Wetter und Geläute der Glocken) und resümiert mit dem nunmehr bekannten Satz.
Feingold hält den Nachsatz für eine reine Vermutung Herzls. Er habe schließlich zeitlebens nie um ein Amt als Richter in Salzburg angesucht und auch nur wenige Monate als Gerichtspraktikant in der Stadt verbracht. Als Beleg für die Unhaltbarkeit von Herzls Spekulation, die dieser "so dahingeschrieben" habe, sieht Feingold die Tatsache, dass etwa zeitgleich zu Herzls Tagebucheintragung im Jahr 1885 Albert Pollak (nach 370 Jahren der erste Jude, der sich in Salzburg ansiedeln durfte) mit den höchsten Auszeichnungen der Stadt geehrt wurde.
Wie aber soll oder kann mit diesen Wünschen umgegangen werden? Wie weit sind sie uneingeschränkt zu respektieren, wenn sie vom Betreiber, von einem jüdischen Betreiber, einer Gedenktafel für einen Juden kommen? Die Stadt Salzburg hat den vermeintlich einvernehmlichen und zunächst bequemen Weg gewählt, aber prompt zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Unterschlagung der erwähnten Worte nicht allseitig als Schlussstrich in dieser Angelegenheit akzeptiert wird. Überlegungen zu den Beweggründen für Feingolds Argumentation bleiben aus. Aber sollte nicht gerade Feingolds Befürchtung bezüglich antisemitischer Reaktionen zu denken geben? Schließlich, so Wolfram P. Kastner, ist es Aufgabe der politisch Verantwortlichen, für ein Klima zu sorgen, das erst gar keinen Nährboden für entsprechende Angriffe und Handlungen bietet.
Mit der "Rückgabe" des Folgesatzes nur wenige Wochen nach der feierlichen Enthüllung der Gedenktafel für den Begründer das Zionismus war die Diskussion neuerlich und auf breiterer Ebene als je zuvor entfacht. Die Botschaft von den Salzburger Vorfällen machte nicht nur in Österreich ihre Runden. Auch international agierende Organisationen und Einzelpersonen zollten Solidarität und richteten Schreiben der Empörung an die politisch Verantwortlichen. So hat im März 2002 das European Council of the Arts (ECA) in einem offenen Brief schärfste Kritik an der unverhältnismäßigen Vorgehensweise gegen Wolfram P. Kastner geübt und zur Einstellung des Verfahrens aufgefordert. Zuletzt wurde die Causa in den Fällekatalog des in London ansässigen Artistic and Artists' Right Network (AARN) aufgenommen und von dieser Stelle ein internationaler Aufruf gestartet, Appelle zur Einstellung der Strafverfolgung von Wolfram P. Kastner nach Salzburg zu schicken. Im AARN-Newsletter vom 25.3.2002 findet sich die Berichterstattung über den juristischen Umgang mit Wolfram P. Kastner in Österreich neben Artikeln über die Zensur einer künstlerischen Arbeit in Johannisburg oder das Verschwinden eines Journalisten im Iran wieder.
Während die Kunde von der österreichischen Vorgehensweise gegen einen kritischen Künstler ihre Kreise zieht und die internationale Beobachtung unaufhaltsam größere Radien annimmt, steht die Angelegenheit auch in Salzburg nicht still. Im Februar dieses Jahres (wenige Tage nach Kastners erstem Termin bei Gericht) hat der Salzburger Landtag dem SP-Antrag für einen "bewussten und wahrheitsgetreuen Umgang mit dem geschichtlichen Erbe der jüngsten Vergangenheit" einhellig zugestimmt. Den weiteren Schritt, im aktuellen Fall die Strafanzeige zurückzuziehen und eine Zitatergänzung auf der Gedenktafel für Theodor Herzl von offizieller Seite vorzunehmen, ging der Landtag zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht. Am 20.2.2002 stimmten SPÖ, ÖVP und FPÖ gemeinsam gegen diesbezügliche Anträge der Salzburger Grünen.
Vielleicht inkonsequent oder inhomogen erscheinen auch die später folgenden Stellungnahmen von Salzburgs Verantwortlichen und AdressatInnen von kritischen Anfragen in dieser Sache. Die sich mit fortschreitendem Datum verändernden Standpunkte sind aber zweifellos als Erfolg der Protestaktionen und Ergebnis der dazwischenliegenden Bedenkzeit zu werten. Bürgermeister Schaden (SP) meint in einem Schreiben vom 27.2.2002, dass sich die Stadt Salzburg in Anbetracht ihrer Vorgangsweise im Vorfeld der Entstehung der Gedenktafel und durch die umfangreiche Einbeziehung der Betreiber (s.o.) seiner Ansicht nach nichts vorzuwerfen hätte. Ende März folgte ein offener Brief von Kulturlandesrat Othmar Raus (SP) an Landeshauptmann-Stellvertreter Wolfgang Eisl (VP) mit dem Ersuchen, die Strafanzeige gegen Wolfram P. Kastner zurückzuziehen. Anfang April betont Walter Thaler (Klubvorsitzender und Landtagsabgeordneter, SP), dass die Sozialdemokratische Partei Salzburgs sehr bedaure, dass Herzl auf der Gedenktafel nicht vollständig zitiert wurde.
In den ersten Junitagen erhob schließlich Bundespräsident Thomas Klestil seine Stimme und appellierte an Salzburgs Bürgermeister, eine Zitatergänzung zu veranlassen. Ariel Muzicant (Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien) setzte diesem Aufruf nach und betont, dass es der Wunsch aller Österreicher sein müsste, unsere gemeinsame Geschichte aufzuarbeiten und, dass Salzburg und ihre politischen Vertreter heute kein Problem haben sollten, das richtige Zitat zu verwenden. Nur wenige Tage später beschließt der Kulturausschuss der Stadt Salzburg (gegen die Stimmen der FPÖ), dass Zitate grundsätzlich vollständig wiedergegeben werden sollten. Bürgermeister Heinz Schaden will nun für eine baldige Entscheidung - im Einvernehmen mit den ursprünglichen Initiatoren - sorgen.
Im Grunde wäre die handschriftliche und inoffiziöse Zitatergänzung durch Wolfram P. Kastner ein sehr passendes Lösungsangebot für die Gestaltung der Gedenkstelle und Handhabung der zwiespältigen Situation zwischen Betreiber, Stifterin und Text-KritikerInnen gewesen. Sie dokumentiert die Diskrepanz zwischen offiziellem Statement und lebendigem Diskurs und verbildlicht sie zugleich: erhabene Marmortafel mit einheitlichen Lettern versus handschriftlichem Farbauftrag mittels Faserstift. Letzterer operiert sowohl inhaltlich als auch formal mit dem Mittel der Provokation und könnte die Gedenktafel damit längerfristig dem denkmaltypischen Schicksal des Übersehenwerdens entreißen. Durch die voreilige Übermalung hat Salzburg vorerst die Chance verpasst, der Stadt ein zeitgeistiges "Denkmal" zuzutrauen, das Auseinandersetzung heraufbeschwört und damit gegen das "Vergessen" arbeitet. Ein Austausch der Tafel mit unauffälliger Ergänzung käme einer Verschleierung des langwierigen Erkenntnisprozesses gleich - doch gerade der, so Wolfram P. Kastner, muss sichtbar gemacht werden. Die künstlerische Intervention ebenso zu belassen, wie sie entstanden ist, wäre jedenfalls ein unübersehbares und im öffentlichen Raum dokumentiertes Bekenntnis Salzburgs zu Meinungsvielfalt und einem kritischen Umgang mit Geschichte - gewesen.
Das einzige Bleibende ist nach wie vor die Strafanzeige gegen Kastner. Die erste "Abhörung" (wie es in der Ladung an den Künstler hieß) hat am 14.2.2002 stattgefunden. Mittlerweile liegt ein Angebot für eine außergerichtliche Einigung vor. Übernimmt der Künstler die sogenannte Schadenswiedergutmachung in der Höhe von 145 Euro, so ist die Landesregierung bereit, sich als Privatbeteiligte aus dem Verfahren zurückzuziehen. Aus dem Kulturamt ließ man den Künstler telefonisch wissen, dass diese Kosten übernommen werden könnten ("Da finden wir schon jemanden..."). Kastner ist nicht bereit darauf einzusteigen.
Daniela Koweindl ist Damenoberbekleidungsmacherin, Studentin der Kunstgeschichte (Schwerpunkt Denkmalforschung) und kulturpolitische Sprecherin der IG Bildende Kunst.