Kunstprojekt Schleppertagung: Fluchthilfe als notwendige Dienstleistung?!
Schlepper werden gemeinhin als Kriminelle und in Banden agierend dargestellt, die für ihren Profit buchstäblich über Leichen gehen. Durch die ausschließliche Fokussierung auf diese Personengruppe geraten die vielschichtigen Facetten der Mobilitätshilfe aus dem Blickfeld. Es stellt sich die Frage, warum Schlepperei als kriminelles Delikt und nicht als nachgefragte Dienstleitung unter riskanten Bedingungen bewertet wird?
„Großes Schlepper-Treffen in Bayern!“ Eine Fachtagung zum Phänomen Fluchthilfe soll zur „Image-Aufwertung sowie der damit einhergehenden Neubewertung der Dienstleistungen Schleppen und Schleusen“ beitragen, wie die Kurzbeschreibung auf der Website im eleganten Design wissen lässt (siehe: www.iss2015.eu). „Die ISS 2015 präsentiert sich erneut als „die“ relevante Fachtagung der weltweit agierenden Fluchthilfe-Unternehmen“ und war als Teil des „Open Border“-Kongresses Mitte Oktober 2015 an den Kammerspielen in München eingebunden. Die Strategie der Provokation ging bereits im Vorfeld auf: Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann empörte sich über die „fehlgeleitete Politpropaganda“, die Tagung schaffte es in die Schlagzeilen großer Zeitungen in Deutschland, und sogar in Österreich titelte die Gratiszeitung Heute: „Großes Schlepper-Treffen in Bayern!“ (Heute, 30.09.2015). Der Begriff des Schleppers in der männlichen Form wird in diesem Artikel verwendet, um auf politisch konstruierte und medial rezipierte vergeschlechtlichte Bilder aufmerksam zu machen. Dieser Aspekt fand bei der Tagung (zu) wenig Raum. Die vier Panels zu den Themenbereichen Geschichte, Praxis, Kriminalisierung und Kunst waren mit Vortragenden aus Wissenschaft, Journalismus und Aktivismus besetzt. Sie gingen der Frage nach, was der historische und begriffliche Perspektivenwandel bedeutet, wie aktuell gelebte Fluchthilfe-Praxis aussehen kann, sie thematisierten die juristischen Interpretationen und die damit einhergehende Kriminalisierung und gaben einen Einblick in aktuelle Kunstprojekte und Kampagnen. Nicht zuletzt wurde der Lisa Fittko-Preis für Fluchthilfe in verschiedenen Kategorien vergeben.
Was können wir aus der Vergangenheit lernen? Lisa Fittko, die im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit ihrem Mann Hans als Fluchthelferin über die Pyrenäen zwischen dem NS-besetzten Frankreich und Spanien aktiv war, wurde von der Historikerin Dr. Anne Klein vorgestellt. Dr. Keller forscht als Historiker zum Schweizer Polizeikommandanten Paul Grüninger, der in den Jahren 1938 und 1939 Hunderte Menschen aus Deutschland in die Schweiz einreisen ließ. Grüninger wurde damals fristlos entlassen, wegen Verletzung seiner Amtspflicht und Urkundenfälschung verurteilt und ist erst 1993 posthum rehabilitiert worden. Keller vermutet, dass sich Grüningers Rehabilitation auch deshalb so lange gezogen hat, weil man befürchtet habe, PolizistInnen könnten sich ein Vorbild an ihm nehmen und Abschiebungen verweigern. „Die Angst der Regierung war, dass man aus der Geschichte lernt.“ Thematisiert wurde die Gefahr der Romantisierung der Fluchthilfe in der NS-Zeit, denn auch in den 1930er-Jahren gab es Ausbeutung und Erpressung. Dennoch wäre der Weg ins Exil ohne Fluchthilfe schwieriger oder gar nicht bewältigbar gewesen. In der deutschen Geschichte waren Schleuser nicht nur in der NS-Zeit, sondern auch zur Flucht aus der DDR relevant. Stefan Buchen, Journalist, berichtete über den Fall eines Schleppers, der seinen Lohn einklagte und vor dem Bundesgericht Recht bekam, da es sei nicht anstößig sei, eine Hilfeleistung von einer Bezahlung abhängig zu machen. Diese bis 1977 geltende Entscheidung steht in einem deutlichen Missverhältnis zur Rechtspraxis von heute und verdeutlicht die Veränderung der gesellschaftlichen Bewertung.
Praxen der Fluchthilfe: Der zweite Tag begann mit einem Panel zu aktuellen Entwicklungen der Branche. Der Journalist Giampaolo Musumeci, der im Schleuser-Milieu rund ums Mittelmeer recherchiert und viele inhaftierte Schlepper getroffen hat, betonte, dass sie Geschäftsleute seien, die ähnlich wie ein Reisebüro Netzwerke verschiedener Menschen aufbauen, welche die Logistik für den Transport an bestimmte Orte und die Versorgung übernehmen. Er warnte vor der Situation in Libyen, wo vier Netzwerke den Markt dominieren, ihre Absprachen führen zu überhöhten Preisen, Ausbeutung und Gewalt. Die Migrationsforscherin Zeynep Kas ̨ lı beschäftigt sich mit Entwicklungen an der türkisch-griechischen Landesgrenze. Lange Zeit nutzten lokale LandarbeiterInnen ihr Wissen über die Gegend und die Beziehungen zu Soldaten, um Menschen bei der Grenzüberschreitung zu unterstützen. Ab 2012 kam es im Rahmen von „Cooperations against migrants“ zur Zusammenarbeit von GrenzbeamtInnen beider Staaten, unterstützt durch Frontex. Dadurch wurden die lokalen Netzwerke der Fluchthilfe verdrängt und professionellere, international agierende und teurere Netzwerke auf den Plan gerufen.
Die unkomplizierte Suche zu Mobilitätsfragen in sozialen Medien zeigte der Journalist Sammy Khamis. Wer das arabische Wort für „Schlepper“ auf Facebook eintippt, erhält zahlreiche Angebote und Routen in unterschiedlichen Preisklassen, abhängig von Komfort und Geschwindigkeit. Die Antworten auf Anfragen erfolgen innerhalb weniger Minuten. Diese Flexibilität ist notwendig, da die Routen an das Wetter oder die Politik angepasst werden müssen. SchlepperInnen sind von guter Reputation und zufriedenen KundInnen abhängig. Wegen der zunehmenden Konkurrenz werben sie mit kurzen Werbevideos und Selfies. Wenn sie ihre Aufgabe erneut gut erledigt haben und über Whatsapp die Ankunft bestätigt ist, wird der Lohn über neutrale Mittelspersonen übergeben. Zwei AktivistInnen des Kollektivs „Erzsébet Szabó“ stellten ihr Projekt „Refugeekonvoy. Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ vor, mit welchem am 6.9.2015 in ca. 170 Autos 380 Menschen von Ungarn nach Wien gebracht wurden. Betont wurde, dass die Flüchtenden selbst diese Idee angeleitet haben.
Staatliche Versuche zur Unterbindung von Fluchthilfe: Zwischen SchlepperInnen wurde innerhalb der Panels nicht entlang der Frage der Bezahlung unterschieden, sondern darin, ob sie ihren Job gut und verlässlich machen. Jene, die nicht auf das Leben und die Gesundheit jener achten, von denen sie für ihre Aufgabe bezahlt werden, müssen geahndet werden, aber diese Begleitstraftaten betreffen nicht primär das Schleusen. Der Rechtsanwalt Axel Nagler stellte die Frage, ob es angemessen ist, Schlepperei überhaupt als Straftat zu qualifizieren, da es für ausbeuterische Schlepperei, Misshandlung, Erpressung usw. eigene strafrechtliche Bestimmungen gibt, daher sei eine Bestrafung als Fluchthilfe nicht erforderlich.
Stefan Schmidt, Kapitän der Cap Anamur, erzählte über seine Anklage und Inhaftierung als Schlepper in Italien im Jahr 2004. Das Schiff Cap Anamur rettete 37 Menschen aus Seenot, drei Personen wurden wegen Beihilfe zur illegalen Einreise einige Tage inhaftiert, erst 2009 erfolgten die Freisprüche. Die Künstlerin und Aktivistin Katarzyna Winiecka, bekannt durch die Kampagne „Fluchthilfe & Du“, berichtete vom politisch motivierten Prozess gegen Refugee-Aktivisten der Wiener Refugee-Protestbewegung. Obwohl die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner von Millionengewinnen einer skrupellosen Bande sprach, blieb von den über 74 Anklagepunkten vor Gericht so gut wie keiner mehr übrig. Trotz fehlerhafter Ermittlungsarbeiten, inkorrekter Übersetzungen der polizeilichen Telefonüberwachungsprotokolle und nicht nachvollziehbarer Personenzuordnungen wurden die acht Angeklagten monatelang in U-Haft eingesperrt und schließlich sieben von ihnen (nicht rechtskräftig) schuldig gesprochen. Winiecka betonte, dass sich das Bild der Angeklagten als auch der gegenwärtige „Schlepper“-Diskurs verändern ließe, wenn die Stimmen der „Geschleppten“, nicht als Opfer, sondern als sich von Grenzregimen in ihrer Mobilität nicht aufhaltenden Flüchtenden gehört und wahrgenommen würden. Sie zeigte eine Videobotschaft von Singh S., der seit 2013 als einer der acht Fluchthelfer in Wiener Neustadt kriminalisiert wird. Er beschrieb seine eigene Fluchtgeschichte und wie er später seine Landleute unterstützt hat. Er betonte, dass es kein Verbrechen sei, sich gegenseitig zu helfen und forderte Bewegungsfreiheit für alle.
Einhellig wurde festgestellt, dass die Grenzsicherung nicht dazu führte, dass weniger Menschen einwandern. Sie führte vor allem dazu, dass die Einreise für Flüchtlinge teurer und gefährlicher wurde. Strenger kontrollierte Grenzen beleben daher das Feld der Schlepperei. Dies führt zu folgendem Paradox: Je mehr Europa sich zu schützen versucht, desto mehr profitiert das Schlepper-Business. Dass die Schlepperbekämpfung lediglich eine Scheinlösung darstellt, setzt sich langsam auch bei PolitikerInnen durch. Im Rahmen des „Open Borders“-Kongresses referierte François Gemenne über seine zehn Thesen, welche die Notwendigkeit der Öffnung der Grenzen argumentieren, die zukünftige Politikgestaltung inspirieren könnten.
In feierlichem Rahmen wurde Samstagabend erstmals die undotierte „Goldene Lisa“ in drei Kategorien verliehen. Die PreisträgerInnen sind Maria Eitz für ihr Lebenswerk, die schwedische Kampagne „Refugee“ Air in der Kategorie „Fluchthilfe innovativ“ und das Wiener Kollektiv „Erzsébet Szabó“ für ihren Konvoi Budapest-Wien in der Kategorie „Fluchthilfe konkret“. Die ehemalige Fluchthelferin Maria Eitz, aufgewachsen in Deutschland, als Hausmädchen dem NS-Regime entflohen, lebt heute in den USA. Sie hat bereits seit den späten 1950-Jahren Kindern zur Flucht verholfen und war in zahlreichen asiatischen und afrikanischen Ländern aktiv, um vor allem Kinder über Grenzen zu bringen. Sie war bei der Preisverleihung sichtlich gerührt und stellte Bezüge zur aktuellen Situation her: „Ich kenne Deutschland als Land, das Flüchtlinge macht, und dass es nun eines ist, das Flüchtlinge aufnimmt, das macht mich froh, so froh.“ Abgerundet wurde die festliche Gala mit einem Auftritt der Jazzsängerin Jelena Kuljic und dem Pianisten Konstantin Kostov, die gemeinsam ein sehr passendes Lied vortrugen: „With a little help from my friends.“
Kunst und Connections: Um Bekanntschaften und Interessengemeinschaften entstehen zu lassen oder bestehende zu pflegen, war der Vormittag des letzten Tages beim ISS-Brunch dem Austausch gewidmet. Die möglichen Kunstund Kampagnenformate fanden nachmittags Raum. Ricardo Dominguez, Co-Gründer des „Electronic Disturbance Theater“, steht für Cyber Activism. Seine aktuellste Arbeit ist die Smartphone-App „Transborder Immigrant Tool“, die für die Grenze Mexico – USA verschiedene praktische Tools zur Verfügung stellt, aber auch ein Poesie-Feature. AktivistInnen des „Watch the Med Alarm Phone“ stellten das im Oktober 2014 gestartete Projekt vor: eine Telefonnummer, die Menschen in Seenot anrufen können. Rund 100 AktivistInnen in Europa und Nordafrika kommunizieren mit den AnruferInnen und mit den Küstenwachen, um ihre Rettung auf See sicher zu stellen, all diese Fälle werden genau dokumentiert.
Die Künstlerin Tanja Ostojic ́ befasst sich in ihren Arbeiten mit frauenspezifischer Migration. So startete sie 2000 die Internetkampagne „Looking for a husband with EU-passport“. Sie heiratet einen Kölner Künstler, von dem sie sich 2005 erneut als Kunstaktion wieder scheiden ließ. In ihren jüngsten Arbeiten befasst sie sich mit Abschiebungen. Tanja Ostojic ́ zeigte ihre Video-Performance „Naked Life“, in der sie sich mit der Situation von Roma und Sinti auseinandersetzt. Der Verein Sea-Watch, der ein Schiff zur Ersthilfe in Seenot geratener Flüchtlingsboote auf das zentrale Mittelmeer entsandt hat, wurde von Ruben Neugebauer vorgestellt. Das Rettungsschiff konnte seit Einsatzbeginn im Juni mehr als 2000 Menschen aus Seenot retten und macht auch medial auf die Situation im Mittelmeer aufmerksam.
Den Abschluss bildete die Kampagne „fluchthelfer.in“, die von der Filmemacherin Lou Huber-Eustachi präsentiert wurde. Sie versteht die Kampagne nicht als Kunst-Aktion, sondern als politischen Aufruf zum Schleppen, daher finden sich auch viele Tipps und Tricks auf www.fluchthelfer.in. Den Abschluss des Videos bildet ein Zitat von Lisa Fittko: „Wir müssen versuchen, uns gegenseitig zu retten. (...) Und was dann? Was dann kommt, wird sicher nicht immer glattgehen. Es wird in den Händen künftiger Generationen liegen.“ Es ist noch offen, wie diese das PhänomenFluchthilfe und die Ignoranz gegen das tägliche Sterben im Mittelmeer, an Grenzzäunen und in Lastwägen retrospektiv bewerten werden.