Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen
Erinnerungskultur an der Gebirgsgrenze zwischen Vorarlberg und Graubünden. Lange Zeit erinnerte man sich an die Zeit des NS-Regimes auch im Montafon sehr österreichisch. Rund um die Kriegerdenkmäler und sogenannten Heldenehrungen herrschte ansonsten ein weitgehendes Verschweigen und Verdrängen. Erst in den Jahren ab 2000 setzte sich der Heimatschutzverein Montafon in einer Reihe von Veranstaltungen und Publikationen mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Diese für ein Heimatmuseum und seinen Trägerverein beachtenswerte Offenheit wurde jedoch anfangs überregional kaum wahrgenommen.
Insbesondere die zeithistorische Dimension der Gebirgsgrenze zwischen Österreich und der Schweiz stand im Fokus des Heimatschutzvereins. Am Beginn der Auseinandersetzung mit diesem Thema wurde die Geschichte der Grenze im Rahmen des Projekts „Grenzüberschreitungen“, das im Jahr 2008 in eine Sonderausstellung (beidseits der Grenze) sowie eine umfangreiche Publikation mündete, wissenschaftlich aufgearbeitet. Den Schwerpunkt der Forschungen bildeten Oral-History-Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, da die anderweitige Quellenlage zur Geschichte der Grenze – insbesondere in der NS-Zeit – sehr dürftig ist. Konkrete Biografien und Ereignisse konnten auf der Basis zahlreicher mündlicher Erinnerungen dokumentiert und rekonstruiert werden: Geglückte und gescheiterte Fluchtgeschichten (etwa jene von Ernst Eisenmayer oder Jura Soyfer) sowie die Aktivitäten von Persönlichkeiten, die zwischen 1934 und 1945 als Fluchthelfer zahlreichen Verfolgten das Leben retteten, indem sie ihnen den Weg über die Berge des Rätikons oder der Silvretta in die Schweiz wiesen.
Auf Basis dieser grundlegenden Untersuchungen wurden seit- her unterschiedlichste Vermittlungsangebote entwickelt, die einerseits neue Zielgruppen ansprechen sollten, aber andererseits auch wiederum inhaltlich zu neuen Erkenntnissen verhalfen. So entstand in Kooperation mit dem teatro caprile die Theaterwanderung „Auf der Flucht“, die im Rahmen des vom Heimatschutzverein organisierten Montafoner Kulturfestivals „septimo“ im Jahr 2013 Premiere feierte und seither mehrfach erfolgreich in Gargellen wiederaufgeführt wurde.
Basierend auf Zeitzeugenberichten, historischen Dokumenten und literarischen Texten von Franz Werfel, Jura Soyfer u.a. wird in theatralischen und tänzerischen Streiflichtern den Fluchten während der NS-Zeit nachgespürt: der Entwurzelung dieser Menschen, ihren Strapazen in einer hochalpinen Region, ihrer oftmals tödlichen Abhängigkeit von lokalen Helfern inmitten kleinräumiger Dorfstrukturen und sozialer Kontrolle oder der Menschlichkeit der Grenzwächter. Dabei wird die Bedeutung lokaler Geschichte und ihrer Protagonisten innerhalb nationaler und internationaler Politik besonders sichtbar. Emotionale Dichte und historische Fakten machen das Stück „Auf der Flucht“ zu einem beeindruckenden kulturellen und künstlerischen Event. Gespielt wird im Hotel Madrisa, in Alphütten und im freien Gelände, die dargestellten Figuren und das Publikum durchmessen gemeinsam auf einer Wanderung das herrliche Gebirgspanorama mit dem einen Ziel: der Grenze zur Schweiz am Sarotla-Joch. Anschließend an die Premiere konnte im Frühjahr 2014 in Gaschurn eine Ausstellung des Bludenzer Fotografen Walter Kegele, der die Theaterwanderung mit der Kamera begleitet hatte, gezeigt werden. Anlässlich der Vernissage, die zudem auf den 75. Todestag Jura Soyfers Bezug nahm, spielte das teatro caprile die „Jura-Soyfer-Revue“ und thematisierte jene Zeit auf überregionaler Ebene.
Zuletzt widmete sich das Theaterensemble café fuerte der Flucht-Thematik in der NS-Zeit. Das Stück „Die Schwärzer“ wurde im September 2015 an mehreren Abenden an verschiedenen Schauplätzen rund um und in einer Alpe nahe der Schweizer Grenze bei Vandans aufgeführt. Soziale Konfliktfelder in einem kleinen Bergdorf, die Grauzone zwischen dem Nebenerwerb als Schmuggler und dem Risiko als Fluchthelfer stehen im Fokus dieses „Schmugglertheaters auf der Alp“, welches das Publikum selbst zu Betroffenen macht und mit auf den Weg durch die nächtliche Bergwelt nimmt.
Parallel zu diesen Vermittlungsangeboten konnte im Jahr 2015 auch das p[ART]-Projekt „Erinnerungsorte an die NS-Zeit im Montafon“ gestartet werden. Der Heimatschutzverein und die NMS Schruns-Dorf beschäftigen sich dabei gemeinsam mit Orten und Themen, welche besondere Aspekte der NS-Zeit in der Region repräsentieren. Zu jeder Lokalität begleitet die Jugendlichen eine Fachperson und bringt ihnen vor Ort die Geschichte dieses Erinnerungsortes näher. Die Jugendlichen gestalten vor Ort kleine Kurzfilme, indem sie Interviews zu dem Thema durchführen. Außerdem werden die Erinnerungsorte fotografisch dokumentiert sowie kurze Texte zum jeweiligen Thema verfasst, die dann in einer Broschüre zusammengefasst veröffentlicht werden. Schließlich wurde im September 2015 eine von den Jugendlichen erarbeitete Ausstellung im Montafoner Heimatmuseum eröffnet.
Der bedeutende Erinnerungsort „Grenze“ wurde von Friedrich Juen aus mehreren Perspektiven erläutert. Neben der grundsätzlichen Situation an dieser Gebirgsgrenze wurden insbesondere Biografien von Fluchthelfern wie Meinrad Juen, der mindestens 42 Menschen in die Freiheit geführt hat, sowie Fluchtgeschichten wie etwa jene von Nikolaus Staudt, der in Gargellen an der Grenze ermordet wurde, oder jene der beiden jüdischen Frauen, die sich im Gemeindearrest von St. Gallenkirch das Leben nahmen, nachdem sie beim Grenzübertritt festgenommen worden waren, näher beleuchtet.
Die aktuellen globalen Entwicklungen verdeutlichen eindrücklich bedrückend, dass Grenzen zunehmend zu Schauplätzen sozialer Brisanz werden. So hat sich die Problematik zwar räumlich verlagert, aber in der Gesellschaft kommt es mitunter zu neuen Grenzziehungen zwischen „heimisch“ und „fremd“. Es gilt daher, das zeithistorische Thema in die Gegenwart fortzuführen und gerade angesichts der weltweiten Fluchtgeschehnisse weiterhin zur Bewusstseinsbildung beizutragen, damit der Mensch doch nicht aus der Geschichte lernt, dass er nichts lernt.