Von Identität zu Diversität
Eine kurze Geschichte der Regulierung der MigrantInnen.
Im Folgenden soll die Transformation des Diskurses um den Begriff „kulturelle Identität“ nachgezeichnet werden. Dementsprechend lege ich nicht sehr viel Wert auf eine genaue Quellenangabe. Es geht mir darum, ein Bild davon zu schaffen, wie diese Diskussion vor sich gegangen ist und warum sie in der aktuellen Debatte um Diversitätspolitik mündet. Die Dynamik, die ich nachzeichne, hat sich zum großen Teil in Amerika abgespielt. Das heißt, ich vertrete hier, obwohl einige Spezifika des österreichischen Diskurses – besonderes die frühere Beschäftigung des Austromarxismus mit dem Thema der Nation – zu berücksichtigen sind, die Hypothese, dass Amerika bis heute für alle geltenden Regulierungstechniken, derer sich die Nationalstaaten bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Migration bedienen, als Quellenland gelten kann.
Die Soziologie in Amerika war von Anfang an sehr daran interessiert, die Menschen, die einwanderten, zum Objekt ihrer Untersuchungen zu machen. Die erste und wahrscheinlich bis heute wichtigste Station dieser sozialwissenschaftlichen Beschäftigung war die Chicagoer Schule. Kurz skizziert ging diese sozialwissenschaftliche Schule von einem vorgegebenen kulturellen Unterschied aus, der sich in einem mehrstufigen Prozess zu einer einheitlichen amerikanischen Kultur transformiert. Die letzte Stufe dieses Prozesses wurde Assimilation genannt. Assimilation war dann verwirklicht, wenn die Eingeborenen (sic!) und die neu dazugekommenen Individuen die gleichen Gefühle, Erinnerungen und Traditionen teilten.
Es handelte sich dabei keineswegs um eine Empfehlung, die neuen „Kulturen“ zu zerstören oder zu unterdrücken. Ganz im Gegenteil, es wurde von MigrantInnen ausdrücklich nicht verlangt, ihre mitgebrachten kulturellen Werte abzulegen oder auch ihre traditionelle Lebensart abzugeben. Assimilation bestand darin, dass diese Menschen mehr und mehr in die breiteren gesellschaftlichen Kreise aufgenommen werden. Ethnische und kulturelle Differenzen würden den MigrantInnen nach Meinung der VertreterInnen der Chicagoer Schule einerseits das Kennenlernen der Vielfalt der Lebensstile ermöglichen, anderseits fänden sie in ihnen eine politische, ökonomische und psychologische Unterstützung.
Assimilation wird Absorption
Diese breite Auffassung von Assimilation der 1930er-Jahre wurde bald aufgegeben, was sich vor allem darin äußerte, dass sich die Bedeutung von Assimilation änderte. Statt eines langfristigen Prozesses der Eingliederung in die Gesellschaft, in der die ethnischen und kulturellen Gemeinschaften eine wichtige Brückenfunktion übernähmen und dauerhaft Bestand hätten, wird Assimilation und auch der als Synonym dazu verwendete Begriff der Integration in der Folge nur dann als vollendet betrachtet, wenn die ethnischen/kulturellen Gruppen verschwunden sind. Entsprechend konzentriert man sich auf den Prozess der gesellschaftlichen Absorption der MigrantInnen. Dabei darf die kulturelle Einheit der Aufnahmegesellschaft nicht gestört werden. Dieser Prozess beinhaltet eine Phase der Transformation, die zum Ergebnis einer vollständigen kulturellen Uniformisierung der MigrantInnen führen soll. Im Unterschied zur Chicagoer Schule spielt sich die Dynamik der Beziehung zwischen abstrakten PartnerInnen ab: einerseits den MigrantInnen, andererseits der Aufnahmegesellschaft. Beide werden als Trägerinnen bestimmter klar abgrenzbarer und homogener „kultureller Identitäten“ verstanden. Ist der/die MigrantIn zum Bestandteil der Aufnahmegesellschaft geworden, hat er/sie auch die alte kulturelle Identität durch eine neue ersetzt. Das Prinzip des Entweder-Oder feiert hier als Bestandteil der nationalstaatlichen Ideologie einen seiner Höhepunkte. Das allen bekannte Grundschema ist „Wir“ und „Sie“. Die Interaktion spielt sich so ab, dass es auf der Seite der MigrantInnen zu einer Akkulturation kommt und die Gesellschaft andererseits die Bereitschaft zeigt, sie unter bestimmten Bedingungen als Teil zu akzeptieren. Dem Prozess der Akkulturation wird mittels Pädagogik, Sozialarbeit, Therapie, Fremdenpolizei usw. nachgeholfen.
Dabei handelt es sich um einen Prozess, der auf verschiedenen Ebenen abläuft. Die/der einzelne MigrantIn soll in dieser Vorstellung durch die gleichzeitigen psychosozialen Maßnahmen dekulturalisiert und neu kulturalisiert werden, indem die alten kulturellen Werte und Verhaltensweisen abgelegt und die neuen aufgenommen werden. Die Aufnahmegesellschaft dagegen öffnet sukzessiv ein Tor der Bereitschaft nach dem anderen, je nachdem bis zu welchem Grad die/der MigrantIn de- und neu kulturalisiert ist. Genau dies wird unter der Aussage, dass Integration „beiderseitige Annäherung“ bedeute, verstanden.
Einer der Versuche, die Migrationspolitik innerhalb des österreichischen Staates in diese Richtung zu steuern, war das vor einigen Jahren von der ÖVP vorgeschlagene System der Bonuspunkte für MigrantInnen. Aus den Bonuspunkten wurde bei dem derzeitigen Staatssekretär für Migration, nach einer Zwischenphase der Forderung nach freiwilligem Engagement für MigrantInnen, das Konzept des Ausschlusses derjenigen MigrantInnen von der Staatsbürgerschaft, die nicht genug materielle Mittel nachweisen können. Es ist also in Wirklichkeit nichts anderes als ein System für die Abwehr der Armen. Das ist keineswegs etwas Neues in der Geschichte; was sich aber immer wieder verändert, ist der Diskurs, der zur Rechtfertigung dient.
Dabei gibt es Faktoren, die eine Assimilation/Integration fördern und andere, die ihr im Wege stehen. Das Spracherlernen, urbane Umgebung, „Mischehen“ zum Beispiel sind die Faktoren, die sie fördern. Umgekehrt sind also das Beharren auf der eigenen Sprache, „ethnische Kolonien” und so genannte Familienzusammenführung integrationsstörend.
KULTUR vs. Kultur
Das Modell des „Wir" und der „Anderen" beruht auf einer Opposition zwischen dem, was Terry Eagleton „KULTUR“ nennt, einer allgemeinen, als Zivilisation verstandenen, universell geltenden, unhinterfragbaren Kultur der Aufnahmegesellschaft und andererseits der klein geschriebenen „Kultur“ der MigrantInnen, die nach diesem Verständnis nichts anderes ist als ein möglichst schnell zu überwindender Partikularismus. Die Aufgabe der Zivilisation besteht darin, diesen Partikularismus zu verschlucken und möglichst gründlich zu verdauen. Letztlich handelt es sich hier um einen ethnozentrischen Traum, der auf dem messianischen Ideal der westlichen Gesellschaften gründet und der trotz seiner desaströsen Auswirkungen während des Kolonialismus eine neue Nische für seine Entfaltung gefunden hat.
Allerdings – wo es Träume gibt, gibt es auch Albträume. Und so kommt es nicht zur Verwirklichung der Vorstellung von Assimilation. MigrantInnen auf der ganzen Welt zeigen sich renitent. Die ethnischen Subjekte verschwinden nicht, wie die Theorie es vorausgesagt hat, sie werden lauter. Sie verlangen Rechte. Sie organisieren sich zu Wahllisten bei den Arbeiterkammerwahlen, schließen Bündnisse mit politischen Parteien oder Interessenvertretungen ab, und, was das wichtigste ist, anstatt weniger werden sie mehr. Es handelt sich hier nicht um eine rein nationalstaatliche Angelegenheit, sondern wir erleben mit dem Untergang des Regulierungsmechanismus Assimilation/Integration auch einen Untergang des fordistischen Dispositivs. Innerhalb eines aufkommenden Neoliberalismus sind alle vorherigen, für sich Universalismus beanspruchenden Subjekte einfach Partikularismen neben anderen Partikularismen. Was sie auch früher waren, nur war das System der Wertvermehrung so organisiert, dass ihr Anspruch auf Universalismus eine Bestätigung fand. In Amerika jedenfalls stellte man Anfang der 1970er-Jahre fest, dass nicht „Schmelztiegel“, sondern „Salatschüssel“ die wichtigste Metapher sei, für das, was die gesellschaftliche Realität eines Einwanderungslandes ausmache.
Durchethnisierung light, Kulturalisierung light
Der Diskurs der Universalisierung verliert an Boden, und langsam entsteht eine neue Regulierungstechnologie. Diese wird mit der Erkenntnis verbunden, dass die ethnischen Gruppen nicht mehr als bestimmte Klassen, sondern an bestimmte soziale Positionen gebunden sind. Ethnizität und Kultur transformieren sich in den Schriften der SozialwissenschaftlerInnen in Richtung einer rein symbolischen kulturellen Gruppe, die nur mittels – vor allem von allen Klassenbindungen – entleerter Identitätssymbole funktioniert. Die Ethnizität wird somit getrennt von der Kultur und weder das eine noch das andere hat die Bedeutung einer endgültigen Instanz (für Individuen und auch Gesellschaften). Die Aufgabenstellung, die im Moment wichtig erscheint, ist zu erkennen, warum es trotzdem Berufungen auf Communities gibt, wenn diese von allen früheren gesellschaftlichen Inhalten entleert werden. Genau in dem Moment tritt auf der ideologischen Ebene die Idee des „kulturellen Pluralismus“ auf. Dieser zeichnet ein Bild der Gesellschaft als eine Mischung und Verflechtung diverser Communities, die selbstverständlich ihre kulturellen Identitäten erhalten und weiter pflegen wollen. Dass sie sich alle am American way of life, als prinzipieller und unhinterfragbarer Normalität, orientieren, wird nicht hinterfragt. Auch dass sie unter ihren Kulturen nur einen bestimmten Folklorismus verstehen, der die Kulturen der Eingeborenen bereichert und alles Kontradiktorische und Zum-Konflikt-Führende weggelassen wird, bleibt unbedeutend. Kultur ist das, was man (mit Heidegger gesprochen) als Kultur versteht. Ein konstruktivistischer, durchaus nachvollziehbarer Ansatz, aber vergessen wir nicht, dass es sich um eine leere Repräsentation ohne Repräsentierbare handelt. Gerade als solche spielen sie ihre Rolle innerhalb des neoliberalen Weltverständnisses. Die Gleichheit der Communities ist trotz aller Verlautbarungen und trotz des ersten „schwarzen Präsidenten” in Amerika, nur eine Gleichheit für die weiße Community. Schwarze AmerikanerInnen füllen die privatisierten Gefängnisse. Was dabei passiert, ist, dass eben die Weißen, die sich im Fordismus als die TrägerInnen der universalen Werte verstanden haben, im Postfordismus zur unhinterfragten Grund-Community unter anderen sichtbaren und partikularistischen Communities werden. Das ist das Dispositiv, das sich derzeit auch innerhalb des österreichischen Staates seinen Weg bahnt.
Nun aber ist die Erklärung dieser neuartigen Durchethnisierung light und Kulturalisierung light nicht mehr eine, die innerhalb der Grenzen des Nationalstaates zu suchen ist, sondern eher als eine Strategie eines neuen politischen Subjektes gesehen wird, das im Kontext der makrosozialen Veränderungen in unserer Welt, vor allem der Transformation solcher Entitäten wie Klassen und Nationen in eine neue gesellschaftliche Organisationsform schlüpft. Die Weichen, die hier gestellt werden, widersprechen einem in der alten Form der nationalstaatlichen Gehäuse gepflegten Essentialismus. Hiermit soll keinesfalls behauptet werden, dass die essentialistische Denkweise verschwindet. Sie verlagert sich nur, indem die Idee der Gesellschaft zunehmend in Frage gestellt und statt ihr die Community als die Organisationsform aller präsentiert wird. Reiche und erfolgreiche Communities werden diesen Prozess begrüßen, die anderen aber werden bald begreifen, dass ihre Stigmatisierung durch die Diversitätspolitik unter anderen Vorzeichen fortgesetzt wird. Somit wird auch der soziale Kampf weiter gehen. Was dabei an Bedeutung verliert, ist das Konzept der kulturellen Identität. Es wird zu einem Etikett auf einer weiteren Ware in der unendlichen Reihe des Angebotenen werden. Der Kapitalismus ist die vielfältigste Vielfalt, die Vielfalt der Vielfalten. Und die Diversitätspolitik ist, mit Lichtenberg gesprochen, nur ein Messer ohne Klinge, an dem der Stiel fehlt.
P.S. Übrigens, das Bild vom „Schmelztiegel“, vom großen ethnischen Kessel, wurde von Michal-Guillaume de Crévecoerur in seinen 1793 herausgegebenen „Skizzen“ entworfen. Neben diesem Bild befand er auch Amerika als Ort wo die „Armen der Welt“ sich versammelten. Der Amerikaner, so erklärte er, sei „weder ein Europäer noch der Nachfahre eines Europäers … Hier werden Individuen aller Nationen zu einer neuen Menschenrasse verschmolzen, deren Bemühungen und deren Nachkommen eines Tages große Veränderungen in der Welt auslösen werden.“ Er traf damit genau die Tonlage, in der die Amerikaner sich selbst immer wieder als Verkörperung der Freiheit dargestellt haben. (Vgl.: Fernández-Armesto, Felipe (1998) Millennium. Die Weltgeschichte unseres Jahrtausends. C. Bertelsmann, München, 405.)
Ljubomir Bratić ist Philosoph und Publizist, lebt in Wien.