Sans-Papiers: Extremzonen der Prekarität
Es kann kaum überraschen, wenn die Extremzonen der Prekarisierung heute am stärksten dort ausgeprägt sind, wo von sozialer Sicherheit nie wirklich die Rede sein konnte: entlang der (neo-) rassistischen und sexistischen Bruchlinien, erzeugt von jenen Verwerfungsmaschinen, die die reale und symbolische Konturierung von "Norm" gewissermaßen seit jeher begleitet haben.
Das Phänomen der heute allenthalben zu beobachtenden Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse kann von verschiedenen Seiten her betrachtet werden, die einander im Übrigen keineswegs ausschließen: Man kann in ihm - wie etwa der Aufruf zum Wiener Euro-Mayday - eine Ausweitung prekärer Lebensformen sehen, die in den marginalisierten Zonen der Gesellschaft schon immer bestanden haben, nun aber gleichsam ins Zentrum der Gesellschaft vorrücken. Ebenso kann man in ihm, dem Sozialhistoriker Robert Castel folgend, den Ausdruck der Tatsache erblicken, dass die heute zusehends schwindenden sozialen Sicherheiten selbst in Zeiten der Vollbeschäftigung sowie der "Norm" unbefristeter Vollzeitverträge nur die "Auswirkung einer empirisch feststellbaren Koinzidenz und nicht einer gesetzlichen Garantie" darstellten - sich also vor allem der positiven Konjunktur und weniger einem wirklichen Ausgleich von Arbeiter- und Unternehmerrechten verdankten. Oder man kann dieses Phänomen auf die Entstehung neuer Randzonen hin untersuchen, an denen wir weniger der neu entstehenden "Norm" eines ehemals breiten und nun in prekäre Beschäftigungsverhältnisse abdriftenden gesellschaftlichen Mittelstands gegenüberstehen als vielmehr den ihrerseits anwachsenden Extremzonen der Prekarisierung.
Es kann kaum überraschen, wenn diese Extremzonen der Prekarisierung heute am stärksten dort ausgeprägt sind, wo von sozialer Sicherheit nie wirklich die Rede sein konnte: entlang der (neo-) rassistischen und sexistischen Bruchlinien, erzeugt von jenen Verwerfungsmaschinen, die die reale und symbolische Konturierung von "Norm" gewissermaßen seit jeher begleitet haben. "Die Antidiskriminierungsrichtlinie ist ein absoluter Job-Killer", war etwa jüngst von der deutschen CDU-Vorsitzenden Angela Merkel angesichts eines über die Minimalvorgaben hinausgehenden Umsetzungsvorhabens der entsprechenden EU-Richtlinie zu hören. Gemeint kann natürlich kaum gewesen sein, dass Antidiskriminierungsmaßnahmen einen "Job-Killer" für migrantische Arbeitssuchende darstellen. Nein, die EU-Richtlinie ist deswegen ein "Job-Killer", weil sie die Rechte der Unternehmen in Sachen "persönlicher Vertragsfreiheit" - wie es ein Unternehmervertreter formulierte - einschränkt und damit deren unermüdliches (oder jedenfalls unermüdlich beteuertes) Bestreben, der neuen Negativ-Subnorm von mehr als 5 Millionen "deutschen" Arbeitslosen entgegenzuwirken.
Es liegt in der Funktionsweise von Verwerfungsmaschinen, dass sie selbst innerhalb des Verworfenen noch Bruchlinien erzeugen, eine - bereits untergeordnete - "Norm" von weitergehenden Verwerfungen abspalten, etwa "deutsche" von "ausländischen" Arbeitslosen oder auch "gute", "legale" MigrantInnen von "schlechten", weil "illegalen". Von Letzteren soll hier die Rede sein - also von jenen, die sich selbst, in Frankreich und darüber hinaus, als Sans-Papiers bezeichnen. Aus der beschriebenen Dynamik fortgesetzter Verwerfungen ist indes keinesfalls zu schließen, dass Sans-Papiers aus dem Zusammenhang der Neugestaltung der Arbeitsverhältnisse schlichtweg ausgeschlossen sind. Eher schon ist vom Gegenteil auszugehen, von einer radikalen Einbeziehung in den ökonomischen Produktionszusammenhang, oder vielmehr: von einem spezifischen Zusammenwirken von Ausschluss und Einschluss, in dem sich ein Prozess der juridisch-politischen Prekarisierung im nationalstaatlichen Regime mit dem Prozess einer sich durch das neoliberale Regime vollziehenden ökonomisch-sozialen Prekarisierung aufs Engste verbindet.
Wir sollten, um die Figur der Sans-Papiers zu verstehen, zweierlei nicht übersehen: Zum einen ist sie in ihrer gegenwärtigen Form zwar relativ neu, aber doch nicht ohne Geschichte. Ihre konkrete Genese reicht bis ins unmittelbare Vorfeld des Mitte der 1970er Jahre in vielen europäischen Ländern erfolgenden "Anwerbestopps" zurück, also bis ans Ende der staatlich gewollten Arbeitsmigration. Eine erste "Sans-Papiers-Bewegung", die bis zur Durchführung erster Hungerstreiks geht, kann für den französischen Kontext etwa schon in den Jahren 1972/1973 festgestellt werden, in Reaktion auf ein von Innen- und Arbeitsministerium erlassenes Verbot der Ausfertigung von Aufenthaltsgenehmigungen für jene MigrantInnen, die zwar eine Anstellung, aber noch keine Aufenthaltskarte hatten.
Bereits Anfang der 80er-Jahre, nach dem Anwerbestopp 1974 und einer Einreisemöglichkeiten und Abschiebepraxis betreffenden Gesetzesverschärfung 1980 durch die "loi Bonnet" (benannt nach dem konservativen Innenminister Christian Bonnet), wurden anlässlich einer durch die inzwischen an die Macht gekommene Linke ins Leben gerufenen "Regularisierungskampagne" der Aufenthalt von 130.000 Sans-Papiers legalisiert. Gleichzeitig zeigen die noch immer einige Jahre vor Entstehen der gegenwärtigen Sans-Papiers-Bewegung erfolgten Regularisierungskampagnen in Italien, Spanien und Portugal Mitte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre eine gewisse Verschiebung der Migrationsdynamik an, handelt es sich doch bei allen drei Ländern um klassische Herkunftsländer von ArbeitsmigrantInnen in der Zeit vor dem "Anwerbestopp": Die "Wohlstandszone" Europa ist größer geworden (und beginnt sich zugleich langsam als "Festung" zu formieren), die Grenze zwischen "aufnehmenden" und Herkunftsländern verläuft fortan zwischen (West?-) Europa und der "Dritten Welt" sowie (seit 1989, und auf beweglichere Art und Weise) zwischen Westeuropa und Ost- bzw. Südosteuropa.
Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass ganz im Einklang mit der skizzierten Entwicklung viele der Sans-Papiers, die Mitte der 1990er in Frankreich damit begannen, sich verstärkt politisch zu organisieren, Kirchen zu besetzen und Hungerstreiks durchzuführen, sich keineswegs in der Situation befanden, nie einen regulären Aufenthaltsstatus gehabt zu haben, sondern diesen aufgrund der Pasqua-Gesetze 1993 sowie der "loi Debré" 1997 verloren, mithin im buchstäblichen Sinn "illegalisiert" wurden. Der Begriff Sans-Papiers, so ist diesem Umstand zu entnehmen, sollte daher nicht ausschließlich als streng juristische Statusbeschreibung verstanden werden; er verweist vielmehr auf eine Situation der Rechtsunsicherheit, eine Situation, die durch das Nicht-Verbürgtsein von Rechten gekennzeichnet ist: Aus eben diesem Grund ist es gerechtfertigt, von einer juridisch-politischen Prekarisierung zu sprechen - einer Prekarisierung, die sich in sämtliche an einen gesicherten legalen Aufenthaltsstatus geknüpften sozialen Rechte hinein verlängert.
Nichtsdestoweniger handelt es sich um einen juristischen Ausschluss, der strukturellen Charakter hat, insofern er im Rahmen der für das nationalstaatliche Regime konstitutiven Verknüpfung von verbürgten Rechten und Nationalität nicht zu beheben scheint. Das Problem wird nicht zuletzt an der Aporie deutlich, die mit der Logik "außerordentlicher Regularisierungen" unausweichlich verknüpft ist: Diese stellen im besten Fall, wie es etwa in der "Déclaration de l'Ambassade Universelle" (dem Gründungsdokument der von Sans-Papiers bewohnten Universal Embassy in Brüssel) heißt, eine "zeitweilige Bereinigung der manifesten Klandestinität" dar - im Realfall, angesichts der festgelegten Kriterien sowie der großen Zahl abgelehnter oder gar nicht erst gestellter Regularisierungsanträge, nicht einmal das.
Worin aber besteht diese "manifeste Klandestinität", die ein unübergehbares soziales Faktum unserer Zeit bildet (wir können heute davon ausgehen, dass die Anzahl der insbesondere in westeuropäischen Staaten als Sans-Papiers lebenden MigrantInnen in die Millionen geht, mithin den Bevölkerungszahlen so mancher kleinerer EU-Mitgliedsstaaten entspricht)? Welche Art von gesellschaftlicher Produktion liegt der sozialen Tatsache der "manifesten Klandestinität" zugrunde? Die Frage lenkt den Blick zunächst auf die Motivationszusammenhänge sowie die unterschiedlich ausgeprägten Zwangslagen, in denen Migration heute stattfindet. Sie sind gewiss nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen, sondern verweisen vielmehr auf ein komplexes Bündel von politischen, sozialen, ökologischen Verhältnissen, vor allem aber auch auf eine Reihe von unmittelbar ökonomischen Hintergründen: Saskia Sassen hat in diesem Zusammenhang auf die vielfach desaströsen Auswirkungen vom IWF auferlegter Austeritätspolitiken auf lokale Wirtschaftsformen in den Herkunftsländern hingewiesen, auf die Verdrängung lokaler ProduzentInnen durch "ihre Märkte erweiternde" Konzerne sowie auf neue Formen der Ausbeutung in den in "Billiglohnländer" ausgelagerten Produktionsstätten.
Migration erscheint in diesem Licht, speziell auf der Nord-Süd-Achse, nicht zuletzt als Effekt einer mit den Mechanismen internationaler Arbeitsteilung und Finanzpolitik verknüpften globalen Armutsproduktion, die die neuen subproletarischen Schichten dieser Welt der "ungeheuren Warensammlung" der reichen Länder und Schichten permanent aussetzt und ihre Arbeitskraft zugleich der Herstellung dieser Warensammlung zuführt. In den meisten Fällen sind es im Übrigen gleichwohl weniger Angehörige der ärmsten Schichten, die ihre Herkunftsregionen verlassen (ein Großteil der Migrationsbewegungen bleibt regional beschränkt), sondern jene, die aufgrund ihrer Ausbildung, Erfahrungen oder Sprachkompetenzen Chancen auf eine erfolgreiche Emigration nach Europa sehen.
In Europa selbst sind indessen ganze Wirtschaftszweige ohne die Arbeit von Sans-Papiers (und anderen MigrantInnengruppen mit untergeordnetem Rechtsstatus) kaum mehr überlebensfähig: Ein markantes Beispiel dafür ist der aufgrund der Dominanz des Handels und der Konzentration von Supermarktketten unter enormen Preisdruck geratene Bereich der landwirtschaftlichen Produktion, in dem angesichts saisonaler Produktionsschwankungen zudem ein besonderer Bedarf an "flexiblen" Arbeitskräften herrscht. Für das industrielle Produktionsfeld hat der französische Soziologe Emmanuel Terray den treffenden Begriff der "Auslagerungen vor Ort" geprägt, um auf die profitable Logik der Beschäftigung von Sans-Papiers in diversen Produktionssektoren wie der Textilbranche hinzuweisen, die für UnternehmerInnen alle Vorteile "echter" Auslagerungen (niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, Wegfall von Sozialabgaben, geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad etc.) haben, ohne die üblichen Nachteile (Transportkosten, Kosten für ins Ausland geschickte Führungskräfte, Kommunikationserschwernisse etc.) mit sich zu bringen. Hinzu kommt schließlich eine Vielzahl von Dienstleistungen (Gastronomie, Kommunikationsarbeit, Reinigungsarbeit, Pflegearbeit, bis hin zur Sexarbeit), die von Sans-Papiers unter prekärsten Bedingungen verrichtet werden.
In all diesen Bereichen finden wir die rechtliche Prekarisierung von Sans-Papiers unmittelbar mit einem allgemeineren Prozess ökonomisch-sozialer Prekarisierung verknüpft. Klassische Formen des Arbeitskampfs angesichts inakzeptabler Verhältnisse - oder auch nur der Einforderung von minimalen Rechten und Sicherheiten - sind, selbst in Fällen der Vorenthaltung von Lohnzahlungen, in aller Regel nur um den Preis des Risikos einer drohenden Abschiebung möglich (während die UnternehmerInnen aufgrund zwischengeschalteter Subunternehmerstrukturen meist unbelangt bleiben): Gerade indem die Figur der Sans-Papiers also einem fundamentalen juridisch-politischen Ausschluss unterliegt, ist sie in den gesellschaftlich-ökonomischen Produktionszusammenhang als gleichsam ideale Verkörperung "flexibler" Arbeitskraft einbeziehbar. Dem ist umgekehrt jedoch auch eine Perspektive der Sans-Papiers-Kämpfe zu entnehmen, die über das meist im Vordergrund stehende Ringen um fundamentale politische Rechte hinausgeht: die Einforderung ihres Anteils an dem von ihnen mitproduzierten gesellschaftlichen und ökonomischen Reichtum.
Stefan Nowotny ist Philosoph und lebt in Wien.