re:form. Ein Papier zur Reform der Wiener Theaterförderung

seit dezember 2002 fand eine reihe von treffen und diskussionen statt, die zur entwicklung folgenden textes zur kulturpolitik in puncto "freie szene" in wien geführt haben. im verlauf der diskussionen einigten wir uns auf die methode, von unseren jeweils spezifischen künstlerischen praxen ausgehend die voraussetzungen unserer produktionsweisen kritisch zu reflektieren. aus dieser perspektive haben wir konkrete und generelle strukturforderungen entwickelt.

seit dezember 2002 fand eine reihe von treffen und diskussionen statt, die zur entwicklung folgenden textes zur kulturpolitik in puncto "freie szene" in wien geführt haben. im verlauf der diskussionen einigten wir uns auf die methode, von unseren jeweils spezifischen künstlerischen praxen ausgehend die voraussetzungen unserer produktionsweisen kritisch zu reflektieren. aus dieser perspektive haben wir konkrete und generelle strukturforderungen entwickelt. die inhalte/methoden unserer arbeiten werden von kulturpolitischen strukturen ermöglicht, unterstützt oder verunmöglicht. daher entschieden wir uns für strukturelle vorschläge, diese sollen weiterhin reflektiert und konkretisiert werden. das ist der beginn eines prozesses. das papier ist eine diskussionsgrundlage.

daniel aschwanden / bilderwerfer
claudia bosse / theatercombinat wien
sabina holzer / performerin
marty huber / performance theorie, dramaturgie
anne juren / performerin
philippe riera / superamas
sylvia scheidl / performerin
sabine sonnenschein / (sonnenschein)
oleg soulimenko / choreograph und performer
christine standfest / theatercombinat wien
yosi wanunu / toxic dreams


da wir keine klare kulturpolitik in der struktur und entscheidung der vergabe der fördermittel für die tanz/theater/performance-szene erkennen, fordern wir den stadtrat und gemeinderat der stadt wien auf, folgende forderungen/anmerkungen mit den künstlerinnen zu diskutieren.

wien hat eine besondere tradition in der experimentellen theater/tanz/performance praxis, die in anderen städten in dieser form nicht stattgefunden hat. interessant wäre, eine spezifische wiener freie szene als kulturelle besonderheit dieser stadt durch strukturen zu ermöglichen/provozieren, die in anderen europäischen städten so nicht besteht/bestehen könnte (was wären mögliche besonderheiten im vergleich zu berlin, hamburg, zürich, paris etc.?). gerade wien hat sowohl durch seine historische theater/ballett/operntradition, als auch durch seine förderungsmöglichkeiten den entsprechenden spielraum und die ästhetische spannbreite, die freie szene durch unverwechselbare ökonomische strukturen zu radikalisieren (laboratorien, prozessorientiertes arbeiten etc.), die freie szene im verhältnis zu den institutionen zu dynamisieren und somit ästhetische konturen und praktiken zu provozieren.

bedingung dafür wäre zunächst die herausbildung eines anderen selbstbewusstseins der freien gruppen, unter dessen bedingungen besondere künstlerische formate/entwürfe entstehen können. (kein schielen nach "oben", sondern radikalität in arbeitsweisen)

wir regen daher an, der wiener freien szene durch eine tiefgreifende reform der förderstrukturen die möglichkeit einzuräumen, sich zu einer (auch im europäischen massstab betrachtet) spezifischen praxis/ästhetik zu entwickeln.

die ökonomische vergabestruktur kommt immer einer kuratorinnenschaft gleich: sie schafft durch die ökonomie bestimmte künstlerische formate, ermöglicht die einen, aber verunmöglicht andere und bestimmt somit den umfang des gefässes, in das dann die jeweiligen "kunstprodukte" hineinpassen müssen. diese kuratorinnenschaft wird meist weder bewusst wahrgenommen, noch verantwortungsvoll gehandhabt.

versuch einer beschreibung im europäischem kontext

die ästhetik der europäischen freien szene ist durch öffnungen bestimmter institutionen "enteignet" worden (schauspielhaus hamburg, volksbühne und prater berlin, schauspiel frankfurt, schauspielhaus zürich, volksoper wien etc.). diese institutionen produzieren oft weitaus radikaler und künstlerisch visionärer als die sogenannte freie szene mit ihren "üblichen" produkten, auch da jene mehr mittel zur verfügung haben. die freien produktionen müssen durch die spezifischen ökonomischen zwänge viel anbindungsfähiger sein; z.b. durch viele koproduzentinnen, die doch immer wieder die gleichen sind (fft düsseldorf, mousonturm, kampnagel, podewil, sophiensäle, gessnerallee etc.). ein hauptcharakteristikum der anbindungsfähigkeit dieser koproduktionen ist ihre standortmässige austauschbarkeit, deren (ausschliesslicher und unreflektierter) ästhetischer nutzen jedoch fraglich ist. die frage ist, wie die "freie szene" in diesem szenario ihren künstlerischen standpunkt formulieren und radikalisieren kann - als besondere qualität, jenseits der durch die oben beschriebenen kontextsetzungen entstehenden vorformatierungen - oder aber mit denselben bewusst zu arbeiten.

aufgrund von kompetenzmangel im beirat und strukturellen fehlentscheidungen schlagen wir strukturelle änderungen vor mit einer laufzeit von zunächst drei jahren und anschliessender überprüfung und veränderung.

1. voraussetzungen

- abschaffung des beirats

- eine neubestimmung des politischen und ästhetischen "auftrags" der mittelbühnen und der koproduzierenden häuser

- wie ist die künstlerische ausrichtung/vision der einzelnen bühnen und häuser? - eventuell ist eine finanzierung zum erhalt einiger bühnen u.u. aus einem speziellen sozialfond gerechtfertigter.

- abschaffung der mittelbühnen und der koproduzierenden theater/häuser in der jetzigen form

- einbezug der summe und garantie der gesamten gelder, die bislang zur förderung aller freien produktionen inklusive der mittelbühnen und koproduzierenden häuser zur verfügung standen, d.h. garantie der vollen produktions/förderungsbudgets seitens der stadt

- entzerrung der geldvergabe von der politik. d.h. alle mittel werden durch das (neu zu schaffende) kuratorium vergeben

- zusätzliche, gesonderte budgets für infrastrukturelle und soziale massnahmen, sowie unterscheidung von infrastruktureller förderung und förderung künstlerischer produktion

- durch art der geldvergabe/verteilung/kuratierung: provozierung anderer künstlerischer arbeitsformate

- definition der "freien produktion" als künstlerische möglichkeit und nicht nur billige produktionsweise. dh. freie produktion als spezifische künstlerische format- und produktionsqualität zu verstehen. klare unterscheidung zu an institutionen anbindbare produktionsweisen und künstlerische konzepte durch:

a) längere/lange arbeitszeiträume - prozessorientiertes arbeiten, förderung von compagnien mit entsprechendem arbeitsansatz

b) andere raumkonzepte, site-spezifische ansätze, dezentrales arbeiten in wechselnden architekturen, im stadtraum, sowie in existierenden kunst- und ausstellungsräumen

c) blackbox - jedoch mit genügend zeit, in diesem spezifischen bühnenraum zu arbeiten (1-4 wochen). die aufführungsräume müssen langfristig arbeitsräume werden

d) interdisziplinäre kooperationen mit künstlerinnen der verschiedenen künste (tanz/theater/performance/wissenschaft/musik/bildende kunst etc.)

e) arbeitsansätze, die die üblichen definitionen der "kunstsparten" oder "kunstgenres" aufgrund ihres arbeitsansatzes überschreiten

f) verpflichtung der bundesbühnen, institutionsinteressierten künstlerinnen arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, durch bereitstellung von ressourcen wie raum, technik, darstellerinnen

g) gleichstellung in- und ausländischer auftrittshonorare

auflösung der spartenbudgetierung - bei kompetenter repräsentanz der unterschiedlichen sparten/ kunstbereiche in dem verantwortlichen kuratorium:

2. geldvergabe

a) produktion

- förderungsanteil für langzeitprojekte/theatrale forschungsarbeiten, die sich nicht über zuschauerinnenzahlen legitimieren

- ein schnellproduktionsbudget, für schnelle produktionsweisen, die zuschauerinnenorientiert sind

- kurzfristiges budget für symposien/tagungen/diskussionen für theoretische auseinandersetzung und weiterbildung

- budget zur kooperation, bei der mindestens 3 kunstgruppierungen zusammenarbeiten müssen. (auch zur ermöglichung grösserer personeller arbeitsformate sowie zu künstlerischem austausch)

- budget für unvorhergesehene ideen, produktionen, formate

b) strukturen

- alle leerstehende immobilien der stadt wien (auch neubauten) sollten der freien szene vorübergehend unentgeltlich zur verfügung gestellt werden. dafür muss eine verteilungsstelle bei der stadt geschaffen werden, in zusammenarbeit mit dem stadtplanungsamt, die z.b. auch vorübergehend leerstehende häuser/räume von firmen oder aus privatbesitz vermitteln, die die besitzerinnen dann, als eine art sponsoring, den künstlerinnen zur verfügung stellen.

- technikpool/mobiles equipment für dezentrales arbeiten. stadtraum, belagerung und nutzung unterschiedlichster städtischer und architektonischer räume sowie bereits existierender kunsträume

- produktions-/diskursorte schaffen, auch für aus- und fortbildung/grundlagenforschung. d.h. mehr in produktions- als in repräsentationsorte investieren.

ev. daran angegliedert:

a) ein magazin für performative kunst, in das sowohl künstlerinnen als auch performancetheoretikerinnen, tanz/theater/filmwissenschafterinnen etc. involviert sind, für analysen des zeitgenössischen performance-, tanz-, theatergeschehens, zur anregung von diskursen und diskursivität, theoriebildung etc.

b) orte für gemeinsame nutzung von infrastrukturen (büro/probelokale) durch mehrere produzentinnen

- ausbildungsstellen bei den freiproduzierenden gruppierungen, die finanziert sind - ausbildungsgegenmodelle zu reinhardtseminar und konservatorium, andere methoden und techniken für interessierten nachwuchs - weiter- und fortbildung für bereits "praktizierende künstlerinnen"- zur präzisierung der künstlerischen potenziale, gegen eine stilabgrenzung als marktwert. potenzierungsgedanke, dh. gegenseitiges zur verfügung stellen von wissen und künstlerischen arbeitsweisen.

3. reform des beirats/schaffung eines kuratoriums

abschaffung des beirats und schaffung eines fachkompetenten kuratoriums aus internationalen, nationalen und kommunalen vertreterinnen, die über alleinige entscheidungsbefugnisse in einem vorher klar festgelegten rahmen verfügen. dieses kuratorium arbeitet in einem begrenzten, auf drei jahre festgelegten zeitraum. die tätigkeit als kuratorin ist bezahlt und nicht ehrenamtlich. die mitglieder werden bestimmt von einer findungskommission, die sich wiederum aus künstlerinnen, politikerinnen und kulturschaffenden zusammensetzt (genauer modus der findung und anzahl der kuratorinnen wäre zu diskutieren).

kompetenzkriterien kuratorium:

der/die expertin sollte theoretische intelligenz und interesse haben sowie die zeitgenössische kunstentwicklung in den letzten jahren welt- und europaweit aktiv verfolgt haben (durch das besuchen von veröffentlichungen, öffentlichen proben, symposien, showings, open labs, performances, aufführungen, ausstellungen, installationen etc.).

die voraussetzung wären kuratorinnen, die das gespräch mit den künstlerinnen suchen und führen. die expertinnen sollten entwicklungsinteresse zeigen für künstlerinnen/kunstgruppierungen/compagnien wie auch für arbeitsstrukturen. die kuratorinnen sollten vorstellungsvermögen sowie analytisches potenzial haben, von "arbeitsprodukten" auf mögliche künstlerische entwicklung zu folgern. keine bewertungsbeamtinnen auf zeit. das kuratorium sollte künstlerisches potential und nicht ausschliesslich kunstprodukte fordern/fördern.

die bewertungskriterien dieses kuratoriums müssen transparent gemacht werden und nachvollziehbar sein.