Mehr Kulturpolitik wagen.
Alles Gewordene hat Geschichte (1). Mein Befund zur Lage der Kultur in Österreich erklärt „das Gewordene“ aus seiner kulturpolitischen Geschichte. Der Blick zurück dient als Orientierung bei den Herausforderungen, die unsere Gesellschaft aktuell meistern muss und kann den Entwurf positiver Zukunftsbilder unterstützen.
In dem Film Citizen Kane, arbeitet Susan, Kanes Frau, an einem Puzzle. Ein Bild ohne Vorlage, das nie fertig wird. Orson Welles verwendete das Puzzle als Metapher für das Rätsel um die Person Citizen Kane und die Bedeutung seines letzten Wortes: Rosebud.
Bei einem Puzzle sind es die Auslassungen die sich sofort aufdrängen. Sichtbare und deutbare Lücken, die als wichtige Bausteine und als Handlungsanleitungen leicht identifizierbar sind. Die fehlende Steine wiegen in der Bewertung des Gesamtbildes schwerer, als all die tausend Teile die bereits zusammengesetzt wurden.
Ich habe in meiner sehr selektiven und persönlichen Zeitreise durch die Kulturlandschaft Österreichs diesen Auslassungen viel Platz eingeräumt. Greifen Sie die Idee des Puzzles auf und füllen Sie diese Möglichkeitsräume mit Ihren Visionen. Dann können wir gemeinsam ein Bild zeichnen, das am Ende des gegenwärtigen Tranformationsprozess unserer Gesellschaft stehen kann.
Jeden Morgen führen mich die letzten hundert Meter zu meinem Arbeitsplatz in der IG Kultur Österreich die Viktor-Matejka-Stiege hinauf, am Apollo-Kino vorbei und enden am Flakturm im Esterhazypark. Jeden Morgen stimmen diese Stationen mich auf die bevorstehenden Aufgaben ein: auf das Aufzeigen von Notwendigkeiten und Optionen, auf das Verhandeln der Leerstellen mit den Kulturpolitiker*innen.
Die Viktor-Matejka-Stiege - gewidmet dem herausragenden Wiener Kulturstadtrat, der als einziger Politiker 1949 die offizielle Einladung an die vom NS-Regime Vertriebenen aussprach, aus ihrem Exil wieder nach Österreich zurückzukehren - endet vor den Hinterausgängen des 1904 erbauten Apollo-Kinos. Ich habe eine Straßenbreite Raum für die Geister von Billy Wilder, Fritz Lang, Hedy Lamarr und viele Andere. „SMASHED TO PIECES (IN THE STILL OF THE NIGHT)“ stand von 1991 bis 2019 an der Spitze des Flakturms, der am Nachmittag seinen Schatten auf das Apollo-Kino wirft. Eine Schriftinstallation des amerikanischen Künstlers Lawrence Weiner, die den praktischen oder ästhetischen Vorstellung der Wiener Stadtregierung für einen Restaurantbetrieb weichen musste.
Ich befinde mich inzwischen auf dem Fritz-Grünbaum-Platz. Der Coffe to go ist notwendig um das wiederkehrende Grauen dieses kurzen Weges hinunter zu schlucken.
Als ich noch in Salzburg Kulturmanagement studierte, kreuzte mein morgendlicher Weg den Domplatz und Sie ahnen vermutlich worauf das hinausläuft: Gottfried von Einem und Bertold Brecht. Mein täglicher Versuch mir einen Brechtschen Totentanz hier vorzustellen. Vergeblich. Eine bürgerliche Kulturelite verteidigte verbissen ihre Vorrechte und beanspruchte die kulturelle Deutungshoheit.
Die Festung der Hochkultur konnte bis 1976 verteidigt werden. In den Schlachthöfen von St.Marx begann ihre Erstürmung. Nach der Besetzung der Wiener Arena breiteten sich im ganzen Land zivilgesellschaftliche Formen der Kulturarbeit aus. Sie nisteten sich in den Vorhöfen und Versorgungstrakten der staatlichen Kulturinstitutionen ein oder (er)fanden sich als kulturelle Nahversorger*innen in der Einschicht. Im urbanen Raum gab es endlich subkulturelle Angebote und in den ländlichen Regionen stärkte das neue kulturelle Aufblühen das Gemeinwesen.
Diskursiv geleitet von Rolf Schwendters 1971 herausgegebenen “Theorie der Subkultur“ und Hilmar Hoffmans „Kultur für alle“, konnte innerhalb der Gruppen und Initiativen rasch Konsens darüber hergestellt werden, wie die Idee „Soziokultur“ umgesetzt werden sollte.
Diametral zur Erweiterung des kulturellen Angebotes verfestigte sich die Prekarisierung der Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen. Obwohl im 1988 beschlossenen Kunstförderungsgesetz in §1. Abs. 1 als Aufgabe des Staates auch die Verbesserung der „sozialen Lage für Künstler“ festgeschrieben ist, sind kaum entsprechende Maßnahmen gesetzt oder verhandelt worden. Als nutz- und wirkungsloses Eingeständnis kann daher auch folgende auf der Website des Bundeskanzleramtes mit 16. November 2018 datierte Meldung bewertet werden: Zusammenfassend könne festgestellt werden, dass trotz Einzelmaßnahmen im letzten Jahrzehnt kaum Veränderungen verzeichnet werden konnten. 10 Jahre nach der letzten Studie unter Claudia Schmied 2008, die einen ernsten Reformbedarf gezeigt und auch als klarer Auftrag an die Politik verstanden wurde, stellt Kulturminister Gernot Blümel dazu fest: "Die Tatsache, dass im letzten Jahrzehnt trotzdem kaum positive Veränderungen erreicht wurden, ist ein klarer und unerfreulicher Befund“.(2)
An dieser Stelle gibt es für das kulturpolitische Puzzle eine klare Vorlage, allerdings fügt niemand die Steine in die Lücke.
Das hier präsentierte Resumee geht von der These eines notwendigen Zusammenspiels von Gesellschaftspolitik und Kulturpolitik aus. Eine über die letzen dreißig Jahre sehr instabile Kombination. An meinem damaligen Arbeitsplatz im Kulturministerium wurde auf Basis eines parlamentarischen Entschließungsantrages vom 28. Juni 1990, ein eigener Budgetansatz zur Förderung von „innovativen, zeitbezogenen und experimentellen Kulturformen und soziokulturellen Initiativen“ eingerichtet. Dieser soziokulturelle Ansatz in der Kulturpolitik galt einigen meiner Kolleg*innen als linkes Schmuddelkind das sich in die heiligen Hallen des Kunstbetriebs eingeschlichen hatte. Beim morgendlichen Überschreiten des Minoritenplatzes - sang Franz-Josef Degenhardt leise in meinem bereits fahnenflüchtig gestimmten Kopf:
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
Sing nicht ihre Lieder
Geh doch in die Oberstadt
Mach's wie deine Brüder.
Beitrag als Podcast:
In dieser Zeit entwickelten sich auch in anderen Bundeseinrichtungen Möglichkeiten der Finanzierung für den internationalen Kulturaustausch, für Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen, mit Strafgefangenen, mit Frauen, mit sozial schwachen Gruppen, u.v.m. Als aber Ende der 90er die Sparstifte angesetzt wurden, traf es diese Schnittstellen und die Freie Szene mit voller Wucht. Sie unternahm vergebliche und heute anbiedernd anmutende Anstrengungen um mit Besucher*innenstatistiken, der „volkswirtschaftlichen Bedeutung“ von Kunst und Kultur, der Kultur als Standortfaktor, der Bedeutung des Kulturtourismus und ihrer Umwegrentabilität den Kürzungen der Budgets entgegenzutreten. Allerdings erfolglos, die Förderbereiche wurden eingeengt und gekürzt, die neuen ökonomischen Parameter, die aber blieben.
Ich beschloß aus der Oberstadt zu fliehen und kämpfte mit den Schmuddelkindern in den Interessenvertretungen die letzten zwanzig Jahre mit acht Minister*innen bzw. Staatsekretär*innen um faire Bezahlung und eine tiefgreifende Reform der Förderstrukturen. Immer mit dem Ziel, die in der Verwaltung fehlende Expertise in Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen durch die Beteiligung der freien Szene zu ersetzen. Mit sehr wenig Erfolg. Alle acht Politiker*innen fühlten sich den staatlichen oder staatsnahen Einrichtungen verpflichtet. Das Interesse an kulturpolitischen Reformen, an den gesellschafts- oder demokratiepolitischen Auswirkungen von Kulturarbeit und der sozialen Situation von Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen musste erst mühsam geweckt werden. Immer wieder zurück an den Start geschickt, grüßte uns Interessenvertreter*innen täglich das Murmeltier - bis Corona kam.
Corona verstärkte die Leerstellen.
Corona machte sie sichtbarer.
Die Vernachlässigung der gesellschafts- und bildungspolitischen Kulturarbeit hatte den Raum freigegeben für die Neue Rechte, die Neuen Querdenker*innen, die neue Antiaufklärung. Jetzt bezahlen wir die Rechnung dafür. Samstags entrüstet sich in den Innenstädten ein Volk von Sternendeuter*innen, Engelsflüster*innen, Rechtsradikalen, Systemkritiker*innen und Menschen die einfach große Angst aber keine für sie passenden Antworten haben.
Das ist die aktuelle Lage der Kultur, entstand aus vielen Auslassungen.
Wenn wir diese Leerräume füllen wollen, um sie nicht den überholten Entwicklungsvorstellungen postdemokratischer Investoren zu überlassen, ist es hoch an der Zeit im kulturpolitischen Diskurs die Zukunftsbilder für unsere Gesellschaft zu entwerfen. Es sind weitreichende Fragen, die einer Bearbeitung bedürfen:
Wie entwickeln wir unsere Demokratie?
Was tun wir gegen den Klimawandel?
Wie gestalten wir die Digitalisierung der Gesellschaft?
Welche Beachtung schenken wir den demografischen Veränderungen in den Städten und in den ländlichen Regionen?
Wie begegnen wir der Spaltung in unserer Gesellschaft?
In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?
Diese zentralen Fragen, müssen wir als Kulturschaffende mitgestalten und in deren Ausgestaltung den Politiker*innen das Wagnis zivilgesellschaftlicher Partizipation abverlangen.
Der Preisträger des Landeskulturpreises Kärnten Hubert Sauper hat uns in seinem Werk eindringlich vor Augen geführt, wie eine Gesellschaft, die unter rein ökonomischen Werten funktioniert, sich selbst zerstört.
Zeichnen wir zum Abschluss dieser Zeitreise eine soziokulturelle Utopie, zusammengesetzt aus kleinen Puzzlesteinen:
Wir schreiben das Jahr 2050. Lichtjahre vom bürgerlichen Kulturbegriff entfernt, dringen Kulturschaffende und Kulturpolitiker*innen gemeinsam in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.
Als am 20. Mai 2030 zum ersten Mal »SoKult«, der Tag und die lange Nacht der Soziokultur österreichweit stattfand, wurde die breite Öffentlichkeit von einer bis dahin wenig beachteten und in ihrer über den reinen Kunstgenuss weit hinausreichenden Dimension überrascht. In öffentlichen Räumen, in Städten und Dörfern wurde in rund zehntausend Aktionen, in Vorstellungen und Darbietungen gezeigt, was mit „Kultur für Alle“ gemeint ist und wie Kunstschaffen und „Kultur von Allen“ zusammengehen. Auch die verblüfften Kulturjournalist*innen hatten Stoff für mehrere Wochen Berichterstattung und sind seither verlässliche Partner*innen des kulturellen Narrativs der jeweiligen Regionen und Städte. Mit Unterstützung der Medien konnte die Rolle der Kulturpolitik bei der Verhandlung unserer Grundwerte und der Gestaltung der Gesellschaft für Alle sichtbar gemacht werden und so auch in andere Politikfelder eindringen. Im Zuge dessen wurde 2040 kulturelle Bildung zentraler Teil der schulischen Grundausbildung. Die kommunalen Förderungen partizipativer Prozesse und selbstverwalteter Räume führten zu einer Belebung des Gemeinwesens, sodaß der in den frühen 2020ern arg zerzauste soziale Zusammenhalt neu formiert werden konnte.
Diskursive Räume wurden eröffnet und die kulturpolitischen Landeskongresse - Kärnten war das erste Bundesland das 2023 mit diesem Format startete -erlangten aufgrund ihres Reformpotenzials und ihrer Ergebnisse internationale Bedeutung.
Dies alles war nur möglich, weil die neue Postwachstumsökonomie auf erweiterten demokratischen Rechten der Bürger*innen gründet. Kulturpolitik als Querschnittsmaterie in allen Politikfeldern zum Einsatz kommt und die Budgets entsprechend angepasst wurden.
Lassen Sie uns das Unvorstellbare ausprobieren und in diesem Versuch erkennen, dass es funktioniert. It’s the culture - stupid!
Verweise:
(1) Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten (1929-1992). Middel Matthias und Steffen Sammler, Reclam Verlag
(2) https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/nachrichten-der-bun…
Gabriele Gerbasits war fast 25 Jahre Geschäftsführerin der IG Kultur. Sie kam aus dem Ministerium und hat die Entwicklung der freien Szene von Beginn an miterlebt und unterstützt.
Hinweis: Dieser Beitrag war ursprünglich die Festrede zum Kärntner Landeskulturpreis 2021 und erschien in der Kulturzeitschrift "Die Brücke".