Kulturarbeit in der Einwanderungsgesellschaft. Zur kulturellen Praxis von MigrantInnen
Pauschale Abwertung führt absurderweise dazu, dass MigrantInnen kulturelle Elemente verteidigen, die sie selbst ablehnen. Wie Encarnación Gutiérrez Rodríguez erläutert, macht diese Reaktion zunächst klar, unter welchen Bedingungen MigrantInnen in Deutschland überhaupt sichtbar werden können – die ständige kulturelle Abwertung zwingt sie offenbar zur Identifikation mit dem Herkunftsland und löst ein Bemühen aus, die Herkunftskultur aufzuwerten.
Bis zum Antritt der rot-grünen Regierung im Jahre 1998 hatte jede Kulturpolitik in Deutschland mit einer paradoxen Situation zu kämpfen. Denn auf der einen Seite war es kaum zu übersehen, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine Einwanderungsgesellschaft geworden war, auf der anderen Seite wurde diese Tatsache von den politischen Eliten nicht anerkannt: Das hat dazu geführt, dass MigrantInnen in der Kulturpolitik nicht als Subjekte, nicht als Teil der Gesellschaft verstanden wurden, sondern als Objekte, als eine zusätzliche, „fremde“ Bevölkerungsgruppe, die dennoch berücksichtigt werden musste. Die Perspektive blieb stets die einer Mehrheitsgesellschaft, welche die kulturelle Praxis der MigrantInnen „von oben“ verträglich gestalten wollte – entweder, indem man diese Praxis als „Ghettobildung“ oder „Parallelgesellschaften“ problematisierte, oder indem man diese Praxis als „Bereicherung“ für die Mehrheitsgesellschaft betrachtete. Die Perspektive der MigrantInnen wurde zwar vor allem im Multikulturalismus immer wieder beschworen, doch oft genug blieb es in der Praxis bei einer schlichten Wertschätzung für „fremde“ Küche, Kunst und Musik, die aber durch ihre Einbindung in die multikulturelle These der Bereicherung weiter darauf verpflichtet blieb, etwas „Fremdes“ gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu repräsentieren.
Mit der offiziellen Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, stellt sich das Problem der Kulturpolitik noch einmal neu. Diese Praxis kann nun nicht mehr als das Tun von „Ausländern“ in Reservate verwiesen werden, sondern muss als Bestandteil der kulturellen Praxis der Bundesrepublik betrachtet werden, während umgekehrt die Kulturpolitik im Sinne eines „Mainstreaming“ für MigrantInnen daraufhin befragt werden muss, ob sie in jedem Bereich der Vielfalt der Gesellschaft gerecht wird. In der im weitesten Sinne staatlichen Kulturpolitik der Bundesrepublik existiert weiterhin zumindest implizit die Auffassung, dass der Gegenstand der Kulturpolitik so etwas wie „deutsche Kultur“ oder zumindest „Kultur für Deutsche“ sei. Der Bereich „Interkulturelles“ spielt hier oft genug etwa die Rolle des auf den Nachmittag abgeschobenen, zusätzlichen muttersprachlichen Unterrichtes in der Schule. Alternative Kulturpolitik wiederum, wie etwa jene der soziokulturellen Zentren, will dieser Fixierung entgehen, indem sie sich auf das Abstraktum Mensch beruft. So stellt sich Hermann Glaser in einem Aufsatz emphatisch hinter das Toleranzgebot der Aufklärung, wie es etwa in der „Ringparabel“ von G. E. Lessing zum Ausdruck komme. Nötig sei eine plurale Identität, „welche Verwurzelung in der Heimat – als Sprache, als geschichtliche und kulturelle, regionale und landsmannschaftliche Zugehörigkeit – mit einer ‚radikalen‘ Offenheit für den menschlichen Menschen jenseits aller Begrenzungen zu verbinden weiß“ (Glaser 2000).
Freilich finden sich MigrantInnen in der Kluft zwischen dem „Deutschen“ und dem „menschlichen Menschen“ eingeklemmt: Die offizielle Kulturpolitik mit ihrem unausgesprochenen Bezug auf „deutsche Kultur“ oder „Kultur für Deutsche“ verweist sie in den Raum der „fremden“ Kultur, doch wenn eine emphatische Bezugnahme auf bestimmte Elemente der Kultur des Heimatlandes oder auf bestimmte Elemente der religiösen Tradition stattfindet, dann erscheint diese vor dem Ideal der Offenheit eines „menschlichen Menschen“ als partikularistisch und ungenügend.
Zwischen der Kategorie des „Deutschen“ und jener des „Menschen“ ist jedoch jene des/der StaatsbürgerIn angesiedelt, die einen Ausweg aus diesem Teufelskreis ermöglicht, und der hierzulande zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Derweil bringen die BürgerInnen eines Staates ganz verschiedene Hintergründe mit, was aber für ihre kulturelle Einbeziehung keine Rolle spielen darf. Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich folgende Konsequenzen: Zum einen erscheint der Begriff „interkulturelle Kulturarbeit“ als kaum geklärt und daher auch wenig hilfreich. In der Praxis – und das verhält sich ähnlich beim Konzept der „interkulturellen Pädagogik“ – führt dieses Konzept mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit dazu, dass bestehende Unterschiede akzentuiert werden und dass die kulturelle Praxis von MigrantInnen weiterhin als additives Element zur „deutschen Kultur“ im weitesten Sinne betrachtet wird. Daher ist es perspektivisch sinnvoller, entweder möglichst neutral von einer „Kulturarbeit in der Einwanderungsgesellschaft“ zu sprechen oder – im Sinne der jüngsten Vorschläge aus dem englischsprachigen Raum zu „citizenship education“ – von „bürgerschaftlicher Kulturarbeit“. Jedenfalls sollte diese Kulturarbeit dazu beitragen, die bestehende Trennung zwischen „uns“ und „ihnen“, zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“ aufzuheben; und das kann nur sinnvoll geschehen, indem eine gemeinsame Grundlage der Zusammengehörigkeit vorausgesetzt wird: entweder das Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft oder der gemeinsame Status als StaatsbürgerInnen.
Eine „Kulturarbeit in der Einwanderungsgesellschaft“ geht also nicht vom provinziellen „Deutschen“ aus und auch nicht von irgendwelchen darunter oder daneben liegenden, ebenso provinziellen Wurzeln in der „Heimat“. Ebenso wenig dient eine abstrakte Idee vom offenen, „menschlichen Menschen“ als Grundlage. Nein, das Fundament sollte die tatsächliche Praxis in einer Einwanderungsgesellschaft sein. Ein Blick auf diese Praxis zeigt, dass die so genannte Globalisierung längst im Alltag angekommen ist. Und ein solcher Blick zeigt auch, dass funktionierende Modelle aus diesem Alltag entwickelt werden müssen. Wie Erol Yildiz in einer Untersuchung über „Die multikulturelle Stadt“ gezeigt hat, passt das Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft überhaupt nicht ins Bild generalisierender Annahmen von allgemeiner Desintegration (vgl. Bukow u. a. 2001).
Daher ist es notwendig, die Perspektive umzukehren und danach zu fragen, was von der Praxis der MigrantInnen in diesem Land verallgemeinerungsfähig ist, das heißt, was man in Bezug 1. auf die Bedeutung, 2. die Elemente, 3. den Begriff von Kultur sowie auf 4. die Konzeptionalisierung von Kulturpolitik lernen kann. Über diese Praxis wissen wir bis heute letztlich wenig. Zum einen konnten die MigrantInnen, da sie als „Ausländer“ institutionalisiert wurden, bislang nur ein schwaches kollektives Gedächtnis über ihre Situation ausbilden. Zum anderen hat die Forschung sich zum größten Teil mit den „Problemen“ der „Ausländer“ befasst und weniger mit ihren Produktionen. Daher können im Folgenden nur Umrisse gezeichnet werden, die zunächst einmal eine ganze Reihe von Fragen für die Zukunft aufwerfen.
Bedeutung von Kultur in der kulturellen Praxis von MigrantInnen
Der ganz überwiegende Teil der MigrantInnen-Selbstorganisationen in der Bundesrepublik hat auf die eine oder andere Weise mit Kultur zu tun. Das hat nicht zuletzt mit der extrem restriktiven Handhabung der Staatsangehörigkeit zu tun. Da es den EinwanderInnen fast grundsätzlich verwehrt blieb, deutsche BürgerInnen zu werden, war es ihnen auch nicht möglich, sich politisch auf Deutschland zu beziehen. Politische Aktivität in Exilorganisationen war aber auch nicht gerne gesehen. Durch diese Voraussetzungen wurde der performative Raum für die Aktivitäten der EinwanderInnen strukturell auf das Feld der Kultur verschoben – eine Kultur, die zumindest nominell mit dem „Heimatland“ verknüpft war. Dieser Heimatbezug wurde von den deutschen Behörden durchaus gefördert, denn schließlich ging man von der Rückkehr der MigrantInnen aus.
Tatsächlich haben heute recht viele dieser Angebote mit Folkloregruppen zu tun. In der Gründungsphase dieser Vereine jedoch fanden sich unter dem Dach von Kultur eine ganze Reihe der verschiedensten Aktivitäten. Als Vorläufer der Griechischen Gemeinden in der Bundesrepublik etwa fungierten Informationsabende, bei denen StudentInnen, WissenschaftlerInnen und ArbeiterInnen zusammen kamen, um über die politische Situation in Griechenland und Zypern sowie über die Probleme der „Gastarbeiter“ mit Wohnen, der Sprache, der Bildung und dem Ausländerrecht zu sprechen. Was also zunächst wie eine heimatkulturell-religiös ausgerichtete Organisation wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Praxis, die den Begriff von Kultur erweitert. Denn Kultur wird hier in einen größeren Kontext gestellt. Das stand und steht im Gegensatz zur herrschenden Auffassung in Deutschland, wonach der Kulturbegriff traditionell eher idealistisch aufgeladen war. Zum einen wurde Kultur häufig auf das künstlerische Feld im weitesten Sinne eingeschränkt – auf ein quasi universelles Reich der hehren Gedanken des „menschlichen Menschen“. Zum anderen wurde Kultur mit Nationalität, „Rasse“ oder Ethnizität verkoppelt, wobei Kultur als unabhängige Variable betrachtet wurde und oft genug noch wird; als Variable, welche Verhaltensweisen prägt und Konflikte zwischen Gruppen verursacht. In der Praxis etwa der Griechischen Gemeinden wurde Kultur jedoch eingebettet in einen Zusammenhang, der Alltag (Wohnen), Chancenverteilung (Bildung), Arbeit und Recht umfasst – und dabei selbstverständlich den Aspekt der Benachteiligung von MigrantInnen nicht unthematisiert ließ.
Die kulturelle Praxis der MigrantInnen beinhaltet also bereits eine wesentliche Weiterentwicklung des Begriffs Kultur in Richtung eines Kulturbegriffs, der Kultur als „gesamte Lebensweise“ (Raymond Williams) bzw. als „Landkarte von Bedeutungen“ (Stuart Hall) versteht. Darüber hinaus wird Kultur hier als eine Praxis verstanden, die Grenzen überschreitet. Durch den doppelten Bezug auf die politische Situation im Herkunftsland sowie auf die Probleme des „Gastarbeiter“-Lebens in Deutschland entstand de facto ein neuer Raum, denn letztlich waren die AktivistInnen von beiden Schauplätzen dezentriert: Als politische Subjekte befanden sie sich weder in Griechenland noch in Deutschland, sondern in einem „Zwischenreich“ (Salman Rushdie) beziehungsweise in einem „transstaatlichen Raum“, wie es in der jüngeren Forschung genannt wird (vgl. Faist 2000). Zwar ist dieser Raum von Machtverhältnissen durchzogen und begrenzt, doch nichtsdestotrotz bietet er ein Potenzial für die Entfaltung von mannigfaltigen Aktivitäten. Während in der Bundesrepublik gerade die Situation der „zweiten Generation“ zumeist auf die Formel „zwischen zwei Kulturen“ gebracht wird, die letztendlich auf einen Zustand der Verzweiflung verweist, hat offenbar bereits die erste Generation neue Räume geöffnet.
Die Gewichtung der Elemente in der Praxis der MigrantInnen
Die „Nagelprobe für die multikulturelle Gesellschaft“ sei, so schrieben Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid in ihrem Klassiker „Heimat Babylon“, der „Umgang der Deutschen mit der moslemischen Minderheit“ (Cohn-Bendit/Schmid 1992). Auf der Seite der BefürworterInnen des wiederaufgelegten Integrationskonzeptes wie Otto Schily klingt das ähnlich. Seit der ersten Einführung des Integrationskonzeptes in den mittleren siebziger Jahren wurden von Seiten der Politik und der Medien immer wieder Skalen kultureller Nähe zum als Norm betrachteten „Deutschen“ konstruiert, in welchen die letztlich synonym verwendeten Begriffe „Türken“ und „Islam“ die größtmögliche Entfernung zu dieser Norm ausdrücken. In der Bundesrepublik wird „der Ausländer“ durch „den Türken“ verkörpert und konkretisiert, so dass die Skala auf eine bloße Dichotomie zwischen „uns“ und „ihnen“ zusammenschrumpft. Aus der Reduzierung ergibt sich wiederum eine spezifische Problemagenda, die nur wenige Punkte beinhaltet: Sprachdefizite, Parallelgesellschaften/Ghettobildung, kulturelle Entwurzelung, Kopftücher, Machismus.
Die Frage allerdings ist: Welche Rolle nehmen die MigrantInnen in dieser Problem-agenda ein? Zum einen kommen sie darin offenbar nur als Abweichung und Störung vor, erscheinen gegenüber der für selbstverständlich gehaltenen Norm im besten Falle als defizitär und im schlechtesten Falle als bedrohlich. Zum anderen wird die Problemagenda der MigrantInnen mit der einheimischen Gesellschaft überhaupt nicht berücksichtigt. Doch für die etwa fünf Millionen „Ausländer“, die keine islamische Religionszugehörigkeit haben, ist der Islam wahrscheinlich nicht die „Nagelprobe“ der Einwanderungsgesellschaft. Für eine „Kulturarbeit in der Einwanderungsgesellschaft“ wird es also notwendig sein, die Problemagenda der MigrantInnen zu eruieren, um herauszufinden, welche Themen ihnen auf den Nägeln brennen und welche Elemente von Kultur von ihnen für die Kulturarbeit überhaupt als relevant gewertet werden.
Pauschale Abwertung führt absurderweise dazu, dass MigrantInnen kulturelle Elemente verteidigen, die sie selbst ablehnen. Wie Encarnación Gutiérrez Rodríguez erläutert, macht diese Reaktion zunächst klar, unter welchen Bedingungen MigrantInnen in Deutschland überhaupt sichtbar werden können – die ständige kulturelle Abwertung zwingt sie offenbar zur Identifikation mit dem Herkunftsland und löst ein Bemühen aus, die Herkunftskultur aufzuwerten. Die Konstruktion einer Trennung zwischen einer modernen „deutschen“ Kultur und einer letztlich vormodernen „türkischen“ Kultur schüttet die Vielfalt innerhalb der Gruppe der so genannten Ausländer und die Vielfalt der Strategien zu. Die Konzentration auf bestimmte, wiederkehrende Elemente irgendwo zwischen Machotum und Parallelgesellschaft führt auch dazu, dass die kulturelle Produktivität der MigrantInnen im Alltag aus dem Gesichtsfeld entschwindet. Dann ist oft genug das, was unter dem Stichwort Parallelgesellschaft problematisiert wurde, wie etwa „ethnisch ausgerichtete“ Diskotheken oder Sportvereine, eher eine höchst interessante Form der Selbsteingliederung in die Gesellschaft. Und dabei hat es auch keinen Sinn, vor Orten wie dem türkischen Männercafé zurückzuschrecken – schließlich hat der jüngere Autor Imran Ayata einmal festgehalten, dass er sich dorthin verzieht, weil er hier eben nicht ununterbrochen als „Türke“ identifiziert wird (vgl. Ayata 1998). So kann, was von außen nach der schlimmsten Homogenität aussieht, innen ein Raum der Individualisierung sein.
Der implizite Kulturbegriff in den kulturellen Produktionen der MigrantInnen
Selbstverständlich bleiben die permanente kulturelle Abwertung und andere Artikulationsformen dessen, was ich an anderer Stelle „rassistisches Wissen“ genannt habe (vgl. Terkessidis 1998), nicht ohne Wirkung auf die kulturelle Produktivität der MigrantInnen. Meine eigenen Interviews mit MigrantInnen zweiter Generation über ihre Erfahrungen mit Rassismus haben gezeigt, dass erst ein Prozess der „Entfremdung“ dazu führt, dass die Differenz zu dem Mehrheitsdeutschen zunächst bemerkt, dann gewichtet und schließlich neu aufgebaut wird.
„Ich hab mich nie als Ausländer gefühlt“, sagen die Befragten in meiner Untersuchung durchweg, und in den meisten Fällen sind es ganz konkrete Erlebnisse, welche das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit erstmals etabliert haben. M., türkischer Herkunft, berichtet etwa davon, wie er als Schüler bei dem Wettbewerb „Sicher durch den Straßenverkehr“ einen Preis gewann und dann gefragt wurde, woher er denn komme. Als er wahrheitsgemäß antwortete „aus Bielefeld“, brach das Publikum in schallendes Gelächter aus. Erst in der Folge solcher Erlebnisse wird die eigene Differenz zum Thema, was auch Rückschlüsse zulässt über die Frage der kulturellen Differenz im Allgemeinen. Meine Resultate sprechen dafür, dass der Kulturwissenschaftler Homi Bhabha Recht hat, wenn er betont, dass das Kulturelle keineswegs bereits vorab als Quelle eines Konfliktes betrachtet werden darf, im Sinne „differenter Kulturen“, sondern als „Ergebnis diskriminatorischer Praktiken – im Sinne einer Produktion kultureller Differenzierung als Zeichen von Autorität“ (Bhabha 2000).
Erst durch Ausgrenzung erhält die Differenz Bedeutung, wobei bestimmte Praktiken und Themenfelder im Austausch mit der Mehrheit an Relevanz gewinnen. Ein Beispiel sind etwa die Kopftücher, die in den letzten Jahren zunehmend von jungen und zumeist gebildeten muslimischen Frauen getragen werden und mit irgendeiner Tradition in der Türkei überhaupt nichts zu tun haben (vgl. Karakasoglu-Aydin 1998). Jede kulturelle Produktion von MigrantInnen ist also auch immer eine Reaktionsbildung auf das „rassistische Wissen“ oder den „hegemonialen Blick“ – die Mehrheit ist in jeder Ausdrucksform auf eine bestimmte Weise enthalten.
Wie zuvor erläutert, impliziert die Praxis der MigrantInnen einen Kulturbegriff, welcher kontextbezogen und grenzüberschreitend ist. Nun kommt als weiteres Element hinzu, dass jene Kultur, die sich einem/einer BetrachterIn ganz selbstverständlich als „ethnische Kultur“ präsentiert, eine Verdopplung oder interne Differenz beinhaltet. Die Differenz verläuft also nicht „zwischen den Kulturen“, die miteinander in „Dialog“ treten sollen, sondern die Differenz verläuft insbesondere in der Einwanderungsgesellschaft als Bruch innerhalb solcher angeblichen Entitäten wie dem „Türkischen“ oder dem „Griechischen“. Die MigrantInnen befinden sich als Subjekte nie da, wo sie ein hegemonialer Blick auf der Suche nach den immer gleichen Klischees verortet.
Nur wenn man diesen Punkt versteht und wenn Kulturarbeit an diesem Punkt ansetzt, kann sie auch als eine Kulturarbeit verstanden werden, die Kultur als Motor der Veränderung einsetzt. Subjektivierung, schreibt der französische Philosoph Jacques Rancière, sei immer eine „Ent-Identifizierung“ (Rancière 2002). Indem „Proletarier“ oder „Frau“ zu einer Kategorie der politischen Mobilisierung wurden, erhielten diese Begriffe eine völlig neue Bedeutung. Die Verwendung drückte eben keine Identifikation aus, sondern „das Losreißen von einem natürlichen Platz“ – einem Platz, der Unrecht und Ungleichheit bedeutete. Wenn man in der Einwanderungsgesellschaft den ethnischen Kategorien der MigrantInnen begegnet, so sind diese häufig eben keine Zeichen der Identität, sondern in der stolzen Betonung des „Türkisch-Seins“ etwa drückt sich auch ein Widerstand gegen die abwertenden Zuschreibungen aus, die mit dem „natürlichen Platz“ einhergehen, welche die Mehrheitsgesellschaft „den Türken“ zuweist.
Subjektivierung und Identifizierung sind also Gegensätze, und die Kulturarbeit muss hier ansetzen. Wenn Kulturarbeit auf Identität abhebt, dann konserviert sie lediglich die Verhältnisse von Ungerechtigkeit und Ungleichheit zwischen den Einheimischen und den MigrantInnen. Sollte sie das nicht wollen, dann muss ihr Kulturbegriff den gesellschaftlichen Kontext – Wirtschaft, Recht, Wohnen, Bildung etc. – berücksichtigen, die permanente Überschreitung von Grenzen aktiv unterstützen sowie das dynamische Potenzial der Nicht-Identität ausschöpfen. Sie muss ein ständiges Werden befördern.
Literatur:
Ayata, Imran (1998): „Sabri Abis Männercafe: Über einen Ort, der mir gefällt“. In: Mayer, Ruth/Mark Terkessidis (Hg.): Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. St. Andrä-Wörden
Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen
Bukow, W.-D./C. Nikodem/E. Schulze/E. Yildiz (2001): Die multikulturelle Stadt. Von der Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag. Opladen
Cohn-Bendit, Daniel/ Thomas Schmid (1992): Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Gesellschaft. Hamburg
Faist, Thomas (2000): „Grenzen überschreiten. Das Konzept transstaatlicher Räume und seine Anwendungen“. In: Ders. (Hg.): Transstaatliche Räume. Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei. Bielefeld
Glaser, Hermann (2000): „Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Soziokultur und Tätigkeitsgesellschaft“. In: Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren e. V. (Hg.): www.soziokultur.de/20. Bundeskongress soziokultureller Zentren. Dokumentation. Potsdam
Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (1999): Intellektuelle Migrantinnen – Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung. Opladen
Karakasoglu-Aydin, Yasmin (1998): „‚Kopftuch-Studentinnen‘ türkischer Herkunft an deutschen Universitäten. Impliziter Islamismus-Vorwurf und Diskriminierungserfahrungen“. In: Bielefeld, H./W. Heitmeyer (Hg.): Politisierte Religion. Frankfurt/M.
Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main
Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassismus. Opladen/Wiesbaden
Mark Terkessidis ist Psychologe und freier Journalist in Köln. Soeben erschienen: „Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen“, gemeinsam mit Tom Holert, bei Kiepenheuer & Witsch.
Dieser Beitrag erschien in ungekürzter Fassung erstmals in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.) (2003): Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/03, Band 3, Thema: Interkultur. Bonn