Import – Export – Transport
Wenn queere Kritik in Europa auch keine „bequeme Heimstatt“ hat, wie es Sabine Hark (2008) formuliert, so zeigen dennoch auch deutschsprachige Universitäten beachtliche Initiativen und Angebote in diesem Bereich, die zumeist im Rahmen der Geschlechterforschung angesiedelt sind – etwa an der Humboldt Universität zu Berlin, an der Freien Universität Berlin oder an der LMU München. Auch die Universität Wien beschäftigt Wissenschaftler_innen, die queerer Forschung nachgehen sowie queere Theorien lehren.
Eine genaue Definition des Begriffs „queer“ abzugeben ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Viele verwenden queer als Bezeichnung für ihre sexuelle Identität, einige als Bezeichnung für ihr soziales Geschlecht (gender). Oftmals werden so gleichgeschlechtliche Begehren und Akte benannt, häufig auch Geschlechterpositionen in Abweichung von den normativen Polen männlich oder weiblich bzw. jenseits der selbigen. Nicht selten bezeichnet queer wiederum nichts anderes als „schwul“ oder „lesbisch".
Daneben existiert mit der Queer-Theory seit nunmehr 20 Jahren eine aus feministischen, lesbischwulen, anti-rassistischen Theorien und aktivistischen Zusammenhängen hervorgegangene Strömung, die radikale Gesellschaftskritik auf der Basis einer Analyse von Hierarchisierungen und Normierungen von Geschlecht und Sexualität betreibt. Der Kontext der AIDS-Krise in den USA der 1980er Jahre ist dabei ein wichtiger Entstehungsfaktor, der zu einer verstärkten Allianzenbildung der Betroffenen des staatlichen Nicht-Eingreifens gegen die katastrophalen Auswirkungen der Epidemie geführt hat. Im selben Zeitraum kam es zu einer Aneignung und Umdeutung des bislang als homophobes Schimpfwort fungierenden Begriffs „queer“ als positive Selbstbezeichnung. In diesem Zusammenhang beinhaltet queer also auch Dimensionen der Kritik an Heteronormativität und Zweigeschlechterordnung, an gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen, an Rassismus, an Klassenverhältnissen, an Transphobie, Misogynie etc. Gleichzeitig grenzen sich queere Politiken explizit von lesbischwulen identitätspolitischen Strömungen ab, die auf eine Inklusion in bestehende gesellschaftliche Normen und/oder Institutionen abzielen. Queer bezeichnet in diesem Sinne also gerade keine (gemeinsame) Gruppen-Identität sondern vielmehr eine Kritik an den Mechanismen, die solche Identitäten erst hervorbringen.
Spannungsfelder
Die Vieldeutigkeit des Begriffs „queer“ und der spezifische Entstehungszusammenhang als aktivistische Praxis und als Theorieströmung erzeugen eine Reihe von Spannungsfeldern. Einige davon werden im Rahmen der Tagung Import – Export – Transport. Queer Theory, Queer Critique and Queer Activism in Motion, die von 28. bis 30. April 2011 in Wien stattfindet, explizit benannt und aufgegriffen:
Erstens sind queer und queere Kritik „historisch und kulturell konkret in einem bestimmten Erfahrungsraum entstandene und angewandte Begriffe“ (Hark 2008). Die Übertragbarkeit des Begriffs „queer“, dessen Wirkmacht nicht zuletzt von der Geschichte der erfolgreichen Aneignung und teilweisen Umdeutung lebt, in andere sprachliche und sozio-politische Kontexte ist daher keineswegs einfach oder unproblematisch. Es ergeben sich hierbei nicht nur Übersetzungs- und Adaptionsschwierigkeiten. Es besteht auch eine Tendenz zur Verdrängung von Begriffen mit ebenfalls turbulenten Bedeutungs- und Aneignungsgeschichten wie etwa lesbisch oder schwul.
Zweitens gestaltet sich der Austausch queerer Theorien mehr als einseitig. Während US-amerikanische Queer Theoretiker_innen wie Judith Butler, Michael Warner, Lisa Duggan, Robert McRuer oder Judith Jack Halberstam (nicht nur) in Europa rege rezipiert werden, gilt dies in keinerlei vergleichbarem Ausmaß für die andere Richtung. Dies, obwohl der Blick auf Aktivismen und Forschungen weltweit zeigt, dass queere Konzepte sprachliche und kulturelle Grenzen schon lange überschritten haben.
Damit zusammenhängend kommt es drittens im Zuge der fortschreitenden Institutionalisierung der Queer Studies in den USA und GB zu einer gewissen Kanonisierung. Obwohl queere Theorien programmatisch die Hinterfragung von Normen und Bekämpfung von Ausschlüssen, Hierarchien und Diskriminierungen fordern, werden in diesem Zusammenhang oftmals durch implizite oder explizite Bewertungen Maßstäbe und Normen dafür eingeführt, wie queer „richtig“ zu verstehen oder zu verwenden sei. Obwohl queere Aktivist_innen und Theoretiker_innen aus nicht-englischsprachigen Ländern auf diese Kurzschlüsse hingewiesen haben und in ihren Ansätzen und Ausarbeitungen behandeln, ist die Inklusion solcher Bewegungen im Kanon queerer Lehre und Forschung weitgehend Desiderat geblieben. Fragestellungen wie: „Zu welchem Ziel und in welchem Setting kommt der Begriff ,queer‘ zur Anwendung?“ oder „Welche Um- bzw. Neudeutungen werden vollzogen, welche Formen des Aktivismus, welche Forschungen entwickelt?“ finden noch zu selten Eingang in anerkannte Publikationsmedien oder Universitäten. Queer Studies in den USA und GB, so stellt bspw. Donald E. Hall noch zu Jahresende 2010 fest, weisen durch ihre Ausrichtung und hegemonialen Diskurse so viele potenzielle Verbündete weltweit zurück, dass sie einem „exklusiven kleinen Country Club“ (Hall 2010) ähneln, der sich im Zelebrieren seiner eigenen Rituale und Protokolle ergeht.
Viertens lässt sich schließlich – möglicherweise nicht zuletzt als weitere Folge der Institutionalisierung der Queer Studies – ein verstärktes Auseinanderdriften von queerem Aktivismus und queerer Theoriebildung feststellen. Letztere erscheint sprachlich weithin abgehoben und nur bedingt situativ auf spezifische alltagsweltliche Realitäten umlegbar, was von Aktivist_innen als Ausschluss wahrgenommen wird. Queerer Aktivismus auf der anderen Seite wird innerhalb der Theoriebildung oftmals ausschließlich als Forschungsobjekt betrachtet, die aktivistische oder besser politische Seite der Theoriebildung oft vernachlässigt. Im besten Fall wird dabei an die „Vordenker_innenrolle“ der Bildungselite geglaubt, ohne zu berücksichtigen, dass auch Bildungs- und Forschungsstätten Teil „der Gesellschaft“ sind und das Handeln innerhalb dieser Einrichtungen durchaus gesellschaftspolitische Konsequenzen hat.
Queer Theory in Europa
Wenn queere Kritik in Europa auch keine „bequeme Heimstatt“ hat, wie es Sabine Hark (2008) formuliert, so zeigen dennoch auch deutschsprachige Universitäten beachtliche Initiativen und Angebote in diesem Bereich, die zumeist im Rahmen der Geschlechterforschung angesiedelt sind – etwa an der Humboldt Universität zu Berlin, an der Freien Universität Berlin oder an der LMU München. Auch die Universität Wien beschäftigt Wissenschaftler_innen, die queerer Forschung nachgehen sowie queere Theorien lehren, und die Universität Basel betreibt queere Theoriebildung auf höchstem Niveau.
In Österreich, wie auch im restlichen deutschsprachigen Raum, sind auch queere Aktivismen längst gängige Praxen. Initiativen und Gruppen wie die Wiener „Queers on Wheels,“ die queer-feministischen Hausbesetzer_innen der Rosa Lila Villa, die Rosa Antifa Wien oder der radikal-queere Zusammenschluss gegen rechte Burschenschafter tragen das Label queer auf die Straße und praktizieren queere Kritik an Heteronormativität, rassistischer Diskriminierung, Kapitalismus, Hegemonien und gesellschaftlichen Ausschlüssen.
Ein Blick auf Österreichs südliche und östliche Nachbarn zeigt, dass queere Forschung und Aktivismen keineswegs auf den englischen und deutschen Sprachraum begrenzt sind. Ein beeindruckendes Beispiel für queere Theoriebildung findet sich am Institut für Gender Studies der Karls Universität Prag, wo Kateřina Kolářová und andere Forscher_innen wichtige Ansätze zu Schnittstellen zwischen Disability und Queer Studies entwickeln. Das jährlich stattfindende queere Filmfestival Mezipatra lenkt den internationalen Blick auf queere Kritiken, queer-politische Aktivismen und Identitäten in Prag und der Tschechischen Republik.
Doch insbesondere die Berücksichtigung des zentral- und osteuropäischen Raums ist bislang noch ausgeblieben (Kulpa/Mizielińska 2011). So werden bspw. die Arbeiten der Queer-Forscher_innen Erzsébet Barát (Ungarn), Robert Kulpa und Joanna Mizielinska (Polen) oder Věra Sokolová (Tschechien) im englischen (und deutschen!) Sprachraum bislang kaum berücksichtigt. Wichtige Ansätze und Forschungsergebnisse aus Ungarn, Tschechien, Slowenien, Serbien, Kroatien, Polen oder Russland – aber auch Österreich, der Schweiz und Deutschland – werden noch zu selten in den queeren Kanon integriert, politischer Aktivismus kaum berücksichtigt.
Ausblick
Aufgrund der Verengung des derzeitigen queeren Kanons gehen nicht nur interessante methodologische Überlegungen und Ansätze, Forschungsfelder und -gebiete sowie das Wissen über queere politische Praxen verloren. Es stellt sich auch die grundsätzliche Frage, ob dem Anspruch einer prinzipiell offenen, demokratischen, pluralistischen, polyphonen und nicht zuletzt emanzipatorischen Theorie und Praxis gerecht werden kann.
Um angemessen auf Entwicklungen im globalen Kontext einzugehen und aktuell zu bleiben, darf queere Forschung sich nicht auf den englischsprachigen Raum beschränken. Will sie ihren politischen und gesellschaftsverändernden Anspruch bewahren, ergibt sich aufgrund einer solchen Feststellung notwendigerweise die Frage, wie der Begriff „queer“ in unterschiedlichen Settings angewandt wird, zu welchen Zielen und mittels welcher Strategien.
Notwendige Fragestellungen für queere Theorie und queere Politik sind daher, welche Grenzen queer in spezifischen Kontexten aufweist und welche notwendigen Koalitionen queere Konzepte eingehen müssen, um weiterhin auf gesellschaftliche Ausgrenzungen und Verletzungen reagieren zu können. Die Vielfältigkeit an Perspektiven und Verwendungen sollte dabei als Chance begriffen werden und weniger als Mangel.
Literatur
Hall, Donald E. (2010): „Can We Teach a Transnational Queer Studies?“ In: Pedagogy, Vol. 10, Issue 1, S. 69-78.
Hark, Sabine (2008): „Total normal? Queer Theorie in der Akademie“. In: Babka, Anna/Hochreiter, Susanne (Hg.): Queer Reading in den Philologien. Göttingen, S. 51-62.
Kulpa, Robert/Mizielińska, Joanna (Hg.) (2011): De-Centering Western Sexualities. Farnham/Burlinton.
Sushila Mesquita
ist Teil des Organisator_innenteams der Konferenz Import – Export – Transport. Queer Theory, Queer Critique and Queer Activism in Motion. Sie ist zudem verstrickt in verschiedene queer-feministische, anti-rassistische und popkulturelle Zusammenhänge und Projekte in Wien.
Katharina Wiedlack
ist ebenfalls Mitorganisatorin von Import – Export – Transport, beschäftigt sich seit einigen Jahren mit den Intersektionen Queerer Theorien, Aktivismen und Populärkultur und arbeitet am Referat Genderforschung der Uni Wien.