Es war einmal in einem Reifenwerk ... Bericht über das Totalversagen sozialpartnerschaftlicher Interessenvertretung
Da die Continental AG eine Standortgarantie für 10 Jahre (d.h. bis 1995) abgab, war bei meinem Eintreten "die Welt noch in Ordnung". Die knapp 3.000 Beschäftigten kamen trotz "Privatisierung" nach wie vor in den Genuss - am kapitalistischen Durchschnitt gemessener - überdurchschnittlicher innerbetrieblicher Sozialleistungen, einer leistungsfähigen Betriebskrankenkasse und nicht zuletzt von 15 Gehältern. Für diese proletarischen Privilegien musste ein hoher Preis bezahlt werden: jener eines "sozialpartnerschaftlichen Klassenbewusstseins".
1985 ging die Aktienmehrheit der Semperit Reifen AG in Traiskirchen von der quasi-staatlichen CA zum deutschen Reifenmulti Continental über. Die vom österreichischen Staat ausbezahlten Subventionen für Continental übertrafen den Kaufpreis bei weitem. Scheibchenweise wurden Teile des Werkes "outgesourced", zugesperrt oder in sogenannte Billiglohnländer verlagert. Mittlerweile ist das Ende des Traditionsbetriebes besiegelt, lediglich der genaue Zeitpunkt der endgültigen Schließung ist noch nicht fixiert.
Im Folgenden soll es jedoch weder um eine ökonomisch-politische Analyse der Geschichte des in den letzten Zügen liegenden Betriebes gehen noch um eine Anklage an die "Konzernmutter" oder an die laut ÖGB "untätige" Bundesregierung. Vielmehr soll das Verhalten von Betriebsrat und Gewerkschaft aus der Perspektive eines (Ex-)Beschäftigten kritisch beschrieben werden, und nicht zuletzt soll es darum gehen, die völlige Inkompatibilität der Tätigkeiten jener Interessenvertretungen mit den Anforderungen "postfordistischer" Klassenkämpfe aufzuzeigen.
Meine Beobachtungen beginnen im September 1988, als ich in die Semperit Reifen AG eintrat, um den Beruf des Industriekaufmanns zu erlernen, und reichen bis in die Gegenwart. Seit mehr als fünf Jahren bin ich zwar nicht mehr im Werk direkt beschäftigt, verfüge aber - sowohl durch meine Tätigkeit in einem anderen Betrieb des Continental-Konzernes, als auch durch Bekannte, die nach wie vor bei Semperit arbeiten - über einigermaßen genaue Informationen.
Da die Continental AG eine Standortgarantie für 10 Jahre (d.h. bis 1995) abgab, war bei meinem Eintreten "die Welt noch in Ordnung". Die knapp 3.000 Beschäftigten kamen trotz "Privatisierung" nach wie vor in den Genuss - am kapitalistischen Durchschnitt gemessener - überdurchschnittlicher innerbetrieblicher Sozialleistungen, einer leistungsfähigen Betriebskrankenkasse und nicht zuletzt von 15 Gehältern. Für diese proletarischen Privilegien musste ein hoher Preis bezahlt werden: jener eines "sozialpartnerschaftlichen Klassenbewusstseins". Mensch war stolz, SemperitlerIn zu sein und genoss die Vorzüge des fordistischen Klassenkompromisses. Die Machtfülle des Betriebskaisers, äh, pardon: Betriebsrates war scheinbar grenzenlos. Beide Aspekte sollten sich mit Beginn des innerbetrieblichen Strukturwandels bitter rächen.
Anfang der neunziger Jahre begann sich nicht nur am Kalender das langsame Ende der Standortgarantie abzuzeichnen. Die Autoschlauchproduktion wurde stillgelegt, die Erzeugung von Fahrradreifen wechselte bereits 1989 unter großen Schwierigkeiten in den Fernen Osten. Nach dem Ablauf der Standortgarantie gab es für die Conti-Führung kein Halten mehr. Die Forschung und Entwicklung in Traiskirchen wurde aufgelassen, die EDV und später auch der Vertrieb ausgegliedert. Die Semperit Reifen AG wurde von einer autark produzierenden Reifenfabrik zur berühmten "verlängerten Werkbank". Jede neu abgeschnittene Scheibe der mittels Salamitaktik durchgeführten Zerschlagung des Betriebes hatte dieselben Reaktionen der Interessenvertretung zur Folge: Protest; Beteuerungen, ohnehin einzusparen, wo es nur geht; Verhandlungen; Betriebsversammlung; Androhung von Kampfmaßnahmen bei gleichzeitiger Beschwichtigung der Belegschaft; notfalls Anrufung von ÖGB- bzw. SPÖ-Spitze, Nicht-Durchführen von Kampfmaßnahmen, nationalistische Drohgebärden der Kronen Zeitung; Entlassungen: zurück an den Start.
Erwähnenswert erscheint mir eine Betriebsversammlung: Nach den üblichen Beschwörungsformeln über Solidarität zwischen ArbeiterInnen und Angestellten meldete sich eine, nein, die einzige Abteilungsleiterin des Betriebes zu Wort und fragte vor versammelter Belegschaft, warum ihre mehrfach gestellte Forderung nach Einstufung in die (höchste) Verwendungsgruppe sechs nicht durch den Betriebsrat unterstützt würde. Alle AbteilungsleitER waren in der Verwendungsgruppe sechs! Die Stimmung kippte in eine Mischung aus Lachen und betretenem Murmeln. Der Betriebsrat versicherte, sein Bestes zu geben, die Abteilungsleiterin schnitt ihm das Wort ab: das verspräche er schon seit Monaten. In jovialer Manier wurde diese Auseinandersetzung von den Männern im Publikum und hinter den Mikrofonen beendet. Die Abteilungsleiterin verblieb meines Wissens nach in der Gruppe fünf. Jaja, "wir lassen uns nicht auseinander dividieren", "die Frauen sind ganz besonders betroffen", wie oft habe ich das von den Herrn Interessenvertretern gehört.
Die Verlagerung der gesamten Forschung und Entwicklung von Traiskirchen nach Deutschland (Hannover) im Jahre 1994 war der zentrale Punkt bei der Umwandlung einer eigenständigen Fabrik in die berühmt-berüchtigte "verlängerte Werkbank". Weit über 100 hochqualifizierte ForscherInnen verloren - sofern sie nicht dem Ruf des Konzerns nach Deutschland folgten - ihren Arbeitsplatz. Der Angestelltenbetriebsrat rief in einer Betriebsversammlung zum Widerstand gegen die Globalisierung auf, welche Kinder in Indien unter menschenunwürdigen Bedingungen und ebensolcher Bezahlung "unsere Arbeit" machen lassen wolle, im übernächsten Atemzug jedoch wurde die erwähnte Möglichkeit von Kampfmaßnahmen durch einen bemerkenswerten Appell überlagert: "Die Kritik am Individualverkehr ist unser Untergang! Die Grünen und andere Autofeinde zerstören unsere Arbeitsplätze, während wir eh schon sparen, wo´s nur geht!", so der Herr Betriebsrat sinngemäß. Naja, die Fahrradreifenproduktion war ja schon in den Fernen Osten verlegt worden, ohne internationalen Widerstand, ohne Kampfmaßnahmen, trotz Fahrradboom. Hoffentlich wird dieser Mensch nicht einmal Betriebsrat in einer Waffenfirma.
Unzufriedenheit beim Reinigungspersonal? Widerstand gegen die Outsourcingpläne der Geschäftsleitung? Ausgliederung des Vertriebes? Die lt. ÖGB-Statut "Kampforganisation" der Arbeiterklasse" kümmerte sich im besten Fall um "Golden Handshakes", "einvernehmliche Lösungen", wenn´s hoch herging, wurde die damals noch "rot" geführte Regierung angerufen. Der Kanzler wird´s scho’ richten. Gerade Beschäftigte, die nicht in den Kernbereichen der Produktion beschäftigt waren, wurden mit ihren Anliegen meist überhört. An eine Selbstorganisation der ArbeiterInnen im Betrieb war ohnehin nicht zu denken, ganz im Gegenteil: Hunderte von ArbeiterInnen türkischer oder ex-jugoslawischer Herkunft wurden von "echten Österreichern" vertreten, jeder Ansatz von Selbstorganisation unter den "Ausländern" im Keim erstickt. Bei Betriebsversammlungen wurde selbstredend jeder "Ausländerfeindlichkeit" der Kampf angesagt. Wie gesagt, für eine Stunde...
Am Puls des "toyotistischen" Umstrukturierungsprozesses war die Belegschaftsvertretung nur dann, wenn es um die Internalisierung von Produktivitätssteigerung und Ausbeutung ging: freudig wurden "Teamarbeit" und "Total Quality Management" begrüßt und unterstützt, freilich ohne sich zu fragen, ob derartige Veränderungen im Arbeitsprozess nicht auch eine Anpassung der Betriebsratsaktivitäten mit sich bringen sollten. Regelmäßig berichtete der Betriebsrat von Reduktion der Leerlaufzeiten, von Minimierung des Ausschusses, kaum etwas hörten wir vom Kampf gegen Flexibilisierung und Leistungsdruck; kein Wort von den Chancen, welche die berühmt-berüchtigte "lean production" (Just-in-time-Produktion bei geringer Lagerhaltung und flachen Hierarchien) für innerbetrieblichen Widerstand bedeuten könnte. Auch die "outgesourcten" MitarbeiterInnen konnten kaum auf Unterstützung der Gewerkschaften oder des Betriebsrates bezüglich der veränderten Bedingungen rechnen. In die formale Selbständigkeit entlassen (EDV) oder in andere Unternehmen übergehend (Teile des Vertriebs), erledigte sich das "Problem" für die InteressenvertreterInnen der verbleibenden Kernbelegschaft quasi von selbst.
Forderungen nach Streik oder Werksbesetzung wurde seitens des Betriebsrates und der Gewerkschaften stets die "gute alte österreichische Lösung des Verhandelns" entgegengesetzt. Noch 1996 taten Betriebsrat & Gewerkschaft alles, um die wütenden und enttäuschten Beschäftigten vom Streik abzuhalten. Unter dem Druck von Geschäftsleitung und Interessenvertretung entschieden sich bei einer Urabstimmung schließlich nur rund 20% für Streikmaßnahmen. Der österreichischen Lösung des Verhandelns & Entlassens sollte vielmehr das Beispiel der Beschäftigten des Conti-Werkes in Charlotte (USA) entgegengesetzt werden: Dort setzten 1998/1999 in einem einjährigen (!) Streik die ca. 1.500 MitarbeiterInnen - gestützt auf eine breit angelegte internationale Solidaritätskampagne - ihre Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen durch.
Das Euroforum der Conti-Betriebsräte brachte genau eine gemeinsame Protestaktion zustande: eine Trauerkundgebung von BetriebsrätInnen und ArbeiterInnen der Semperit und des schwedischen Gislaved-Werkes, beide von der Konzernleitung endgültig zur Schließung bestimmt. Es gibt kaum ein "besseres" Beispiel für das Dilemma des "österreichischen Weges": Stellvertreterpolitik par excellence, Ruhighaltung der ArbeiterInnen, nationalistisches Agieren, Verhindern von Kampfmaßnahmen um jeden Preis, Nichtreagieren auf substantielle Änderungen des Produktionsprozesses (außer bei der konstruktiven Teilnahme an Total-Quality-Projekten zur Verbesserung der Produktivität und Intensivierung der Kommunikation auf Kosten der Beschäftigten). Ohne einen solchen Betriebsrat hätte es wohl heftigeren und adäquateren Widerstand gegeben, und ohne solche Betriebsräte werden wohl auch zukünftige und erfolgreichere Arbeitskämpfe ausgefochten werden. Im ÖGB hat jedenfalls außer der GPA noch keine Gewerkschaft die Zeichen der Zeit erkannt.
Nachdem Ende 2001 die endgültige Schließung des Standortes seitens der Continental-Konzernleitung beschlossen wurde, kam es tatsächlich zu "Kampfmaßnahmen made in Austria": Der Abtransport von Maschinen aus dem Werk wurde von Transparenten und Pfiffen (!) begleitet, am 4. März 2002 demonstrierten Beschäftigte aus Deutschland, Österreich und Schweden vor der Conti-Zentrale im deutschen Hannover in Form eines Begräbnisses (siehe oben). Abschließend einige Zitate aus dem Kommentar des Gewerkschaftsjournals der ChemiearbeiterInnen zu diesem Leichenzug : "Artmäuer konzidierte [...], dass es für den österreichischen Standort Traiskirchen zwar mit dieser Demonstration möglicherweise [!] zu spät sei, dennoch sehe er den richtigen [!!] Zeitpunkt für derartige Aktionen." "Die hoch qualifizierten Semperit-Mitarbeiter [und die anderen?] haben jahrelang für Continental hervorragende Gewinne erwirtschaftet, Continental sollte sich ... seiner sozialen Verantwortung [!] für die Arbeitnehmer [!] bewusst sein." Das offizielle Flugblatt der Gewerkschaft übernimmt ebenfalls Verantwortung: "Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften sind bereit, konstruktiv und innovativ an Lösungen mitzuarbeiten, um Kostenprobleme in den Griff zu bekommen."
Wer bitte wurde da zu Grabe getragen?
Martin Birkner ist Redakteur der "grundrisse. zeitschrift für linke theorie & debatte".