Die postkommunistische Bedingung: Eine Einführung
Der Übergangsprozess wird dementsprechend als Normalisierungsprozess begriffen. Damit gewinnt alles, was sich während dieses Prozesses ereignet, automatisch den mit der Übergangserzählung eigentlich verknüpften teleologischen Sinn. Das schließt auch die Logik mit ein, dass die Dinge, bevor sie besser – normal, kapitalistisch, demokratisch usw. – werden, zuerst schlechter werden müssen im Vergleich zur vorherigen Situation.
Eine bekannte Binsenweisheit des postmodernen Diskurses, tatsächlich einer seiner Eckpfeiler, ist die berühmte Vielheit der Erzählungen, d.h. die angebliche Abwesenheit einer großen historischen Erzählung, der so genannten Meistererzählung. Interessanterweise scheint es so, als ob der postkommunistische Diskurs davon nie etwas gehört hat. In seiner hegemonialen Fassung funktioniert er tatsächlich als eine Art historische Meistererzählung: die bekannte Geschichte über den Zusammenbruch des Kommunismus 1989 und den endgültigen Sieg des Kapitalismus und der liberalen Demokratie. Dieser Erzählung zufolge treten die Gesellschaften des ehemaligen Osteuropas nach dem Umsturz der totalitären Herrschaft nicht direkt in die Welt des entwickelten Kapitalismus und der westlichen Demokratie ein, sondern müssen zuerst den Übergangsprozess zu diesem endgültigen Zustand durchmachen, der als Normalität ausgegeben wird, d.h. als die universelle Norm geschichtlicher Entwicklung im Allgemeinen.
Der Übergangsprozess wird dementsprechend als Normalisierungsprozess begriffen. Damit gewinnt alles, was sich während dieses Prozesses ereignet, automatisch den mit der Übergangserzählung eigentlich verknüpften teleologischen Sinn. Das schließt auch die Logik mit ein, dass die Dinge, bevor sie besser – normal, kapitalistisch, demokratisch usw. – werden, zuerst schlechter werden müssen im Vergleich zur vorherigen Situation. Aber das Problem ist, dass der Übergangsprozess zu einem wahrhaften Desaster werden kann. Genau das ist im ehemaligen Jugoslawien passiert: Zusammenbruch des Staates, Bürgerkrieg mit grausamer Zerstörung, ethnische Säuberung, ökonomischer Zusammenbruch usw.
Obwohl dieser Fall der hegemonialen Erzählung vom endgültigen Sieg der Demokratie und des Wohlstands offen widerspricht, ist es niemals gelungen, die allgemeine Erzählung in Frage stellen. Mehr noch, sie ist nie angezweifelt worden. Die Ideologie vom postkommunistischen Übergang hat es erreicht, alle Widersprüche symbolisch einzuschließen – sogar die schlimmsten, wie die Belagerung von Sarajewo oder das Massaker von Srebrenica.
Die hegemoniale liberale Ideologie
Diese Ereignisse sind generell als zeitweilige Rückfälle in den Naturzustand erklärt worden, d.h. entsprechend dem noch immer gültigen Hobbesschen Mythos vom vorsozialen Zustand des so genannten bellum omnium contra omnes, kurz, entsprechend der Souveränitätslogik: der Sozialvertrag auf der Grundlage kommunistischer Macht mit der kommunistischen Partei als Souverän wurde aufgekündigt und die soziale Ordnung aufgelöst. Das hat den Bürgerkrieg verursacht, der so lange andauert bis der neue Sozialvertrag abgeschlossen wird, und der neue Souverän – die Nation in den Begriffen ihrer demokratisch gewählten RepräsentantInnen – die Verantwortung übernimmt und Ordnung und Sicherheit wieder herstellt.
Die Gründe für den Rückfall in den Naturzustand sind entweder in einer angeblichen kulturellen Rückständigkeit, oder in der früheren kommunistischen Herrschaft gefunden worden, die eine Verzögerung der historischen Entwicklung verursacht hat. Habermas Begriff der „verspäteten Modernität“, und in der Folge sein Verständnis der Revolution von 1989 als eine „einholende Revolution“, d.h. als eine Revolution, deren wesentlichstes Ziel darin besteht, den Westen einzuholen, sind die besten Beispiele dieser Logik. In beiden Fällen haben wir es mit neuen Differenzen zu tun: eine Differenz zwischen denen, die den historischen Standard verkörpern und jenen, die ihnen hinterher sind, d.h. in historischen, politischen und kulturellen Begriffen: eine Differenz zwischen entwickelten und unterentwickelten Gesellschaften; eine Differenz zwischen dem rückschrittlichen Naturzustand und einem gültigen Sozialvertrag oder vielmehr der funktionierenden Ordnung der Souveränität; eine Differenz zwischen Normal und Abnormal usw.
Alle diese neuen Differenzen, die die alte ideologische Differenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus ersetzt haben, sind am Besten in den Begriffen der Differenz zwischen West und Ost ausgedrückt, die überraschenderweise den Fall der Berliner Mauer überlebt haben. Das Fortbestehen dieser West/Ost-Trennung ist das wichtigste Merkmal dessen, was heute beinahe einhellig als postjugoslawische Bedingung verstanden wird.
Selbstverständlich hat das eine vorrangig ideologische Funktion – sie macht es den GewinnerInnen des Kalten Kriegs möglich, den Ein- und Ausschluss der VerliererInnen vollständig zu kontrollieren. So konnte die blutige Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens gleichzeitig ein- und ausgeschlossen werden, ohne irgendeine Wahrnehmung von Widerspruch hervorzurufen. Was diese Logik gut funktionieren lässt, ist die hegemoniale liberale Ideologie, d.h. der Kern dieser Ideologie, der Mythos vom Sozialvertrag, eigentlich das Märchen über Leute, die keine Gesellschaft schaffen können, ohne Teile ihrer Freiheit zugunsten von Sicherheit und Ordnung aufzugeben.
Eine gegenhegemoniale Erzählung
Aber es gibt auch andere Lesarten der postkommunistischen Bedingung, die von der hegemonialen radikal abweichen. Da ist etwa ein wichtiger Hinweis, den Giorgio Agamben in Homo Sacer über die gewaltsame Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens und allgemeiner über die chaotische Auflösung der osteuropäischen Systeme gibt, die auf den Zusammenbruch des Kommunismus folgten. Er hat die hegemoniale Erzählung offen herausgefordert, die wesentlich auf der Geschichte eines zeitweiligen Bruchs eines sonst – etwa im Westen – normal funktionierenden Sozialvertrags beruht. Agamben argumentiert, dass wir diese Ereignisse nicht als eine Art von zeitweiligem Rückfall in den Naturzustand verstehen sollten, dem früher oder später die Wiederherstellung des Sozialvertrags folgen wird – wie es das Konzept des Übergangs nahe legt –, sondern als eine Art blutige Botschafterinnen eines neuen Nomos der Welt.
Die Krise, auf die er hinweist, hat globale Dimensionen. Demnach kann das, was in den letzten fünfzehn Jahren im ehemaligen Jugoslawien erlebt wurde, als bloßes Symptom einer viel tieferen historischen Veränderung beschrieben werden – die Auflösung einer mehr als dreihundert Jahre alten internationalen Ordnung, die so genannte Westfälische Ordnung –, kurz, als das Entgleiten eines in souveräne Nationalstaaten unterteilten Weltbildes, das klar auf einem bestimmten Territorium verortet werden kann, und von dem angenommen wird, dass es unterschiedliche Bevölkerungen politisch repräsentiert. Mit dem Zusammenbruch dieser Ordnung verschwindet die gesamte normative Dimension internationaler Politik. An deren Stelle tritt heute ein chaotischer Pragmatismus, dessen Rationalität keinerlei universelle Gültigkeit beansprucht. Nationalstaaten existieren künftig weiter, aber die Bedeutung und das Ausmaß ihrer Souveränität hängen strikt von der Rolle ab, die sie im Prozess der neoliberalen Globalisierung spielen.
Ich argumentiere nun, dass wir keine spezifisch postjugoslawische Bedingung denken können, ohne diese und ähnliche Symptome, die mehr oder weniger Effekte der neoliberalen Wende in der Weltökonomie und -politik sind, in Erwägung zu ziehen. Mit anderen Worten, was wir als postjugoslawische Bedingung beschreiben, muss in Begriffen dieser neoliberalen Wende radikal überdacht werden. Der slowenische Philosoph Rastko Mocnik hat jüngst[1] die These vorgeschlagen, dass die Praktiken der Institutionen unter der postjugoslawischen Bedingung tatsächlich einen neoliberalen Charakter haben. Er argumentiert darüber hinaus, dass der klassische Liberalismus tatsächlich die Ideologie dieser neoliberalen Praxis ist. Das impliziert selbstverständlich eine kritische Aufmerksamkeit auf den ideologischen Charakter von politischen Institutionen repräsentativer Demokratie und Institutionen der Zivilgesellschaft, die fast ausschließlich auf liberalen Ideen gründen – und man kann behaupten, dass das heute bei allen diesen Institutionen im ehemaligen Jugoslawien der Fall ist, sofern sie die postkommunistische Transformation durchgemacht haben.
Kritik als gegenkulturelle Übersetzung
Stellen wir jetzt die zentrale Frage, ob es unter den beschriebenen Bedingungen die Möglichkeit einer Kritik (der Institutionen) gibt, die sowohl über die liberale, als auch über die konservative hinausgeht. Wir schlagen vor, den Begriff des Ostens als Produkt von Europa als Ideologie zu verstehen. Als solcher hat er auch einen ideologischen Gebrauchswert. Für Rastko Mocnik bewirkt der Begriff „Osten“ eine historische Amnesie[2]. Er „löscht die politische Dimension aus der östlichen Geschichte und erzielt ähnliche Effekte in der Gegenwart.“ Im selben Kontext spricht er von einem neuen kulturell geschmiedeten Orientalismus, d.h. von Kulturalisierung, die „die Arbeit der politischen Amnesie bewerkstelligt, indem sie die vergangenen politischen Kämpfe auslöscht, die ein alternatives Potenzial hatten, um den Krisen des Weltkapitalismus zu begegnen.“[3]
Offensichtlich ist es diese Kulturalisierung des Politischen, ideologisch verdichtet im Phantom des Ostens, das die Erinnerung an diese vergangenen Kämpfe blockiert und in der Folge eben jenen Grund verdeckt, von dem aus die neue Kritik (der Institutionen, die sowohl über die liberale als auch konservative hinausgehen würde) ihren Ausgang nehmen könnte. Diese Kritik bleibt grundlos, d.h. es scheint so, als ob sie ex nihilo erzeugt werden müsste. Aber das Problem ist weit entfernt von der Unfähigkeit, den Westen einzuholen, wie die liberale Kritik behauptet. Wir sind gegenwärtig nicht fähig, unsere eigene Vergangenheit einzuholen, soweit sie eine Erfahrung betrifft, die beiden Seiten der West/Ost-Trennung gemeinsam ist. Wir sind einfach nicht fähig, die Vergangenheit gemeinsamer politischer Kämpfe, von denen Mocnik spricht, zu erinnern, so als ob sie keine Spuren in unserer sozialen Erfahrung hinterlassen hätten.
Wie sie aber erinnern? Wie die Erinnerung an die vergangenen politischen Kämpfe aus der kulturellen Vergesslichkeit zurückgewinnen? Leider gibt es dabei keinen Weg, das Original aus dessen Übersetzung zu rekonstruieren. Die einzige für uns heute greifbare soziale Erfahrung ist in unterschiedlichen Formen ihrer kulturellen Artikulation oder vielmehr ihrer kulturellen Übersetzung beinhaltet. Mit anderen Worten, es gibt keine ursprüngliche Erfahrung der Gesellschaft als Gesellschaft, außer jener, die in ihrer kulturellen Übersetzung gemacht wird. Das Einzige was wir demnach tun können, ist mit dem Übersetzen fortzufahren – kritisch aufmerksam auf die Falle, in der wir uns wiedergefunden haben, die Falle der Kulturalisierung mit ihrem wesentlich ideologischen Effekt der Entpolitisierung.
Wenn es also unter diesen Bedingungen – die in keiner Weise nur postjugoslawische Bedingungen sind – noch immer eine Strategie von Kritik (der Institutionen) geben sollte, würde ich sie die Aufgabe gegenkultureller Übersetzung nennen. Das klingt offen an den alten Begriff der Gegenkultur an, weil es bereitwillig deren antagonistischen Charakter, deren subversive Motivation und erbitterte Feindschaft zum Mainstream erbt, aber ohne die Wertschätzung der Illusion, automatisch politische Wirkung zu zeitigen. Tatsächlich stellt sie sich der Kulturalisierung dessen gegenüber, das einst genuin soziales Leben war. So will sie politisch werden, namentlich als kulturelle Kritik der Kulturalisierung.
Ist das eine mögliche Aufgabe? Schlagen wir nicht eine Art von Baron Münchhausenschem-Trick vor: nachdem wir in der Kultur stecken wie im Dreck, sollen wir uns selbst am eigenen Zopf herausziehen? Aber anstatt diese rhetorischen Fragen zu beantworten, lassen sie mich eine von Althussers Definitionen der Ideologie paraphrasieren, und an deren Stelle den Begriff der Kultur setzen: Kultur an sich besitzt kein Außen, auch wenn sie gleichzeitig (für die Kritik der Kulturalisierung) nichts als ein Außen ist. Kurz: was einst Ideologiekritik war, kann heute nur als kulturelle Kritik der Kulturalisierung neu formuliert werden. Aber was hat das mit den institutionellen Praktiken zu tun? Noch einmal eine Althussersche Antwort, in derselben Weise paraphrasiert, indem Kultur an die Stelle von Ideologie gesetzt wird: Jede Praxis ist nur durch und innerhalb der Kultur möglich.
1 In einem unpublizierten Text;
2 Ich beziehe mich wiederum auf einen unpublizierten Text mit dem Titel „Europa als Problem“.
3 Das beste Beispiel ist 1968. Mocnik: „Rückblickend erscheint die Revolution von 1968 jetzt als der erste weltweite Versuch, der Krise (des Kapitalismus) zu begegnen, die sich damals erst angekündigt hat.“
Boris Buden ist Philosoph und Publizist, lebt in Berlin.
Eine Langversion des vorliegenden Artikels kann unter: transform nachgelesen werden.
Übersetzung aus dem Englischen: Tom Waibel