Die Matrix
Mitten in der Sommerpause präsentierte das Bundesministerium für Soziales und Konsumentenschutz den Entwurf einer neuen bedarfsorientierten Mindestsicherung. Auch wenn der Fauxpas, die Höhe der angedachten Mindestsicherung bei der Armutsgrenze von 2004 „vergessen“ zu haben, den Eindruck hinterlassen könnte, die österreichische Sozialdemokratie sei im 21. Jahrhundert angekommen, der Schein trügt.
Die Matrix
„Eine Matrix (von spätlat. Erzeugerin, Mutterleib, Verzeichnis) – etwas, das andere Dinge umgibt; eine abstrakte Struktur, innerhalb derer etwas angeordnet ist.“
Mitten in der Sommerpause präsentierte das Bundesministerium für Soziales und Konsumentenschutz den Entwurf einer neuen bedarfsorientierten Mindestsicherung. Auch wenn der Fauxpas, die Höhe der angedachten Mindestsicherung bei der Armutsgrenze von 2004 „vergessen“ zu haben, den Eindruck hinterlassen könnte, die österreichische Sozialdemokratie sei im 21. Jahrhundert angekommen, der Schein trügt. Wie schon beim Regierungsprogramm durchschimmerte, glänzt die „neue“ soziale Politik durch eine Mischung aus unnaivem Haften an dem illusorischen Konzept der Vollbeschäftigung, neurotischer Ausblendung der massiven Prekarisierung von Arbeits- und Lebenszusammenhängen und einer im ständigen Liebäugeln mit der neoliberalen Wirtschaft geübten Kurzsichtigkeit, welche das Konzept Mindesteinkommen einzig und alleine unter dem Aspekt der Armutsbekämpfung zur Debatte stellt, ohne diese aber einzulösen, sowie durch den Hang, Arbeitszwang weitgehend zu institutionalisieren. Wie das Beiwort „bedarfsorientiert“ interpretiert werden kann – dafür genügt es, nur einen Blick ins benachbarte Deutschland zu werfen.
Der große Entwurf ist es nicht geworden. Bedenkt man zusätzlich die Fülle an minderbezahlten Jobs, den systematisch aufgebauten Druck, diese auch aufnehmen zu müssen, die extrem restriktive Ausländergesetzgebung und die ungleiche Verteilung von reproduktiver Arbeit, werden eher die Umrisse einer scheinbar zumutbaren Antiutopie sichtbar. Das neue, diversifizierte Proletariat, oft durch eine besondere Mischung von Qualifikation und anhaltender Recht- bzw. Machtlosigkeit gezeichnet, lässt grüßen. Und allen voran ihre Avantgarde – MigrantInnen teilen sich mit Frauen bestimmter Schichten das Recht auf Teilzeit-, Gelegenheits- und informelle Arbeit und somit das Vorrecht auf eine ebenso befristete wie geringfügige soziale Sicherheit. Solchen Entwürfen mangelt es massiv an emanzipatorischer Perspektive und an einer – und sei es auch homöopathischen – Spur von Vision, welche die Betroffenen handlungsfähiger machen würde. Denn angesichts des kontinuierlichen Galopps der unzähligen kleinen Verschlechterungsschritte – grobe Einschneidungen sind bereits gelebte Normalität – ist es längst nicht mehr ausreichend, die jeweils letzte Verschärfung auszubügeln oder abzulehnen.
Es ist an der Zeit, aus der alten Matrix auszusteigen. Forderungen wie die nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle sind daher nur ein erster Schritt, ein bescheidener Teil der notwendigen Maßnahmen und nicht ihr äußerster Pol. Denn zum erfüllten Leben, auf das jede/r ein Anrecht hat, und nur ein solches kann das Ziel einer erweiterten zukünftigen Demokratie sein, gehört einiges mehr als ein bloßes Einkommen. An weiteren emanzipativen Vorschlägen, sei es eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, die Umverteilung von Ressourcen, eine Demokratiereform, der Ausbau des Sozialstaates, eine Bildungsreform usw., mangelt es nicht. Und an diesen sollte sich eine sich links gebärdende Politik zumindest orientieren.
Alles andere lässt soziale Sicherheit zu einer Festung verkommen, die ihre Grundfunktion darin hat, Mauern vor allem nach Innen zu projezieren, unterschiedliche Zonen in der Gesellschaft zu installieren und zu festigen, das Machbare als unmöglich zu tarnen und die utopischen Horizonte – die schon immer das Gebiet der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungen abgesteckt haben – zugeklappt zu halten.
Radostina Patulova