Die Macht des Gewaltdiskurses
Die über die Medien lancierte Anschuldigung, "gewaltbereit" zu sein, oder auch nur, sich nicht zur Genüge von "Gewalttätern" zu distanzieren, hat sich seit den Protesten gegen die WTO 1999 in Seattle als bevorzugte Form des Dialogs von Politik und Polizei mit den als "Globalisierungsgegnern" etikettierten sozialen Bewegungen etabliert. Mit dem Label "gewaltbereit" werden tendenziell jene versehen, die sich öffentlich gegen die von den Machthabern etablierte kapitalistische Ordnung und die damit verbundene ungleiche Verteilung von Produktionsmitteln, Kapital, Bildung und Macht stellen.
Die über die Medien lancierte Anschuldigung, "gewaltbereit" zu sein, oder auch nur, sich nicht zur Genüge von "Gewalttätern" zu distanzieren, hat sich seit den Protesten gegen die WTO 1999 in Seattle als bevorzugte Form des Dialogs von Politik und Polizei mit den als "Globalisierungsgegnern" etikettierten sozialen Bewegungen etabliert. Mit dem Label "gewaltbereit" werden tendenziell jene versehen, die sich öffentlich gegen die von den Machthabern etablierte kapitalistische Ordnung und die damit verbundene ungleiche Verteilung von Produktionsmitteln, Kapital, Bildung und Macht stellen. Sie werden in international verknüpften "Gewalttäterdateien" gespeichert und während der großen Demonstrationen mit "Ausreiseverboten" belegt. Diese sollen die Demonstrationsteilnahme der polizeilich erfassten Personengruppen verhindern, die laut SPD-Innenminister Otto Schily "mit schwerkriminellen Anschlägen die internationale Zusammenarbeit demokratischer Staaten" stören wollten (Süddeutsche Zeitung). Mit einer medialen Kampagne der Dämonisierung ("gewaltbereite Demonstranten", "Hooligans") und geharnischten Warnungen ("Null-Toleranz") sollen bereits Wochen vor einer geplanten Demonstration NormalbürgerInnen von der Ausübung ihrer demokratischen Rechte abgeschreckt werden.
Und wenn sich die Leute trotzdem nicht abschrecken lassen und wie etwa in Barcelona im März dieses Jahres anlässlich des EU-Ratsvorsitzes von Spanien zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, um gegen die neoliberale und unsoziale Ausrichtung der EU-Politik zu demonstrieren, so werden in einer an sich völlig konfliktfrei abgelaufenen Großdemonstration ein paar am Rande aufgenommene Aufnahmen von übermütigen Jugendlichen über Satelliten in die ganze Welt verbreitet, um das Bild "gewaltbereiter Demonstranten" zu bestätigen und zu reproduzieren. Denn in der öffentlichen Diskussion verläuft die Scheidelinie anhand der beliebten Formel "Protest ja - Gewalt nein". Daher genügt ein einziger Steinwurf, eine einzige zerbrochene Glasfassade einer Konzernfiliale, um von den berechtigten Anliegen Hunderttausender abzulenken und diese zu marginalisieren. Denn Gewalt dürfe in einer Demokratie niemals als Mittel des Protests akzeptiert und eingesetzt werden, lautet die einhellige Meinung nahezu aller bürgerlichen Parteien und Medien in Europa. Dass der Vorwurf der Gewalt von PolitikerInnen erhoben wird, die den Krieg und den Tod an der Grenze zum Normalzustand erklärt haben und für die ständige Reproduktion von Gewaltverhältnissen sorgen, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Welches moralische Recht haben PolitikerInnen, DemonstrantInnen ihre angebliche "Gewaltbereitschaft" vorzuwerfen, während sie gleichzeitig Kriege in Friedensmissionen umtaufen, militärische Gewalt zum primären internationalen Ordnungsinstrument erklären und die Zivilbevölkerung von "Schurkenstaaten" bombardieren lassen? Dahingestellt sei hier auch, ob - frei nach Bert Brecht - das Betreiben einer Bank oder das Einwerfen ihrer Scheiben das größere Verbrechen ist.
Die Formel "Protest ja - Gewalt nein" ist heute zum Lippenbekenntnis einer Politik und Polizei geworden, die sich bemüßigt fühlt, den Anschein demokratischer Rechtsstaatlichkeit und damit die Einhaltung des Rechts auf Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit zumindest verbal aufrechtzuerhalten. Heute gehört es daher in Europa zum Grundritual für die meisten Gruppierungen, die auf einer breiteren Basis für Demonstrationen mobilisieren und Allianzen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften zu schmieden versuchen, sich bei jeder Gelegenheit ausführlich gegen "Gewalt" auszusprechen. Kaum tauchen in den Medien Bilder von gewalttätigen einzelnen DemoteilnehmerInnen auf, lässt auch die Distanzierung von den "Gewalttätern" von Susan George und Attac nicht lang auf sich warten. Dafür, dass man sich durch dieses Distanzierungsritual selbst hoffähig machen und sich als Dialogpartner der Machthaber auf einem der Nebenschauplätze der unzähligen "Gipfel" ins Spiel bringen kann, wird die von den Machthabern betriebene Spaltung der Bewegung anhand der Gewaltfrage leichtfertig in Kauf genommen. Dabei gehört Attac eindeutig zu den Gewinnern der so genannten Anti-Globalisierungsbewegung, die ohne effektvolle Randale und Straßenschlachten natürlich nie diese mediale Aufmerksamkeit gewonnen hätte, die Attac heute dazu verhilft, seine zentralen Anliegen auf breitester Basis zur Diskussion zu stellen. Gerade im deutschsprachigen Raum war Attac bis zu den Ausschreitungen in Göteborg und Genua ein Spezialistennetzwerk professioneller NGOlerInnen, erst danach entwickelte sich ein breites öffentliches Interesse an Attac, was sich unmittelbar in Zugriffen auf die Web-Seiten sowie in rapide steigenden Mitgliederzahlen ausdrückte.
In der hegemonialen Gewaltdebatte wird auch völlig ausgeklammert, dass umfassendere soziale Konflikte immer von gewaltsamen Auseinandersetzungen begleitet wurden und zu historischen Prozessen fast zwangsläufig dazu gehören. Die Legitimität der Forderungen - die heilige Kuh, die Attac und viele andere NGOs durch die "Gewalttätigen" auf die Schlachtbank geführt sehen - ging dabei keineswegs immer flöten. So verfügte die Bewegung gegen Atomkraft in der BRD immer über einen mit direkten Aktionen gegen Sachen vorgehenden Flügel, ohne dass dies die öffentliche Akzeptanz ihrer Ziele jemals wahrnehmbar geschmälert habe. Dennoch rief auch das neu gegründete Salzburg Social Forum in seinen Aussendungen gegen das WEF-Treffen in Salzburg 2002 ausdrücklich dazu auf, sich bei Aktionen auf "friedliche künstlerische Artikulationsmöglichkeiten" zu beschränken. So eine Forderung verwundert gerade in Hinblick auf die Ereignisse bei der letzten Salzburger Demonstration gegen das WEF. Bei dieser polizeilich verbotenen Kundgebung zeigte sich klar, von wem die Gewalt ausging: im Zuge der Demonstration wurden 919 DemoteilnehmerInnen über sieben Stunden lang ohne Grund von der Polizei eingekesselt und somit ihrer Grundrechte mit Gewalt beraubt. Einen Tag nach der Demonstration brachte die Polizei auf einer Pressekonferenz deutlich zum Ausdruck, wie sie die Grenze zwischen "friedlich" und "gewaltbereit" zieht, als der Salzburger Polizeidirektor Karl Schweiger all jenen VersammlungsteilnehmerInnen dankte, "die so friedlich gewesen sind, dass sie in diesem Zuge nicht mitmarschiert sind".
Nun ist der Diskurs der Gewalt und Gewaltlosigkeit ja stets sehr relativ, "eine Aktion als gewalttätig oder nicht zu klassifizieren, hängt ja immer vom Kontext ab", erläutert auch Francesca Ruocco von den Disobbedienti (Ungehorsamen) für ein in Arbeit befindliches Video über diese italienische Aktivistengruppe, und verdeutlicht: "So ist natürlich auch der Antifaschistische Widerstand in Italien eine gewalttätige Sache gewesen, aber es handelte sich ja auch um einen Befreiungskampf von unten gegen ein faschistisches Regime". Wer möchte da den PartisanInnen die Gewalt als solche vorwerfen?
"Gewalt" ist also auch, wenn nicht primär, eine Frage der Definitionsmacht. So wurden die Tute Bianche, die in Italien und weltweit in rein defensiver Weise mit Schaumgummischutz, Schildern, Helmen usw. agierten, immer wieder als gewalttätig bezeichnet. Die Süddeutsche Zeitung war sich nach dem G8 in Genua nicht zu blöd, "Gewalt in weiß" zu titeln, während deutlich zu sehen war, wie die Polizei die Demonstration der Tute Bianche mit Tausenden von Gasgranaten angriff, Hunderte von Personen blutig knüppelte, trat und schlug und sogar mindestens 18 Schüsse mit Handfeuerwaffen abgab - einer davon tötete den jungen Carlo Giuliani. In großen Teilen der italienischen Öffentlichkeit (nicht der Presse, sondern der Straße) hatte der "Ungehorsam" der Tute Bianche, der entwickelt wurde, um genau die immer wiederkehrende Debatte Gewalt/Gewaltlosigkeit zu überwinden, überzeugen können. Doch für das Gros der deutschsprachigen JournalistInnen, autistische Hofberichterstatter der Herrschenden, wird jeder, der demokratische Rechte beim Wort nimmt, mit dem Stempel der Gewalt versehen.
Die Gewaltfrage dient in erster Linie der Spaltung und somit Schwächung von sozialen Bewegungen. Zugleich soll der ewig gültige Verzicht auf "Gewalt" die Integration ins System und damit die Einbindung in die Bemühungen um den Erhalt des Bestehenden - und nicht seine Abschaffung - beschleunigt werden. Dieser Gewaltverzicht bleibt natürlich immer einseitig. Oder kann sich irgend jemand an einen expliziten Gewaltverzicht seitens der Regierungen und Repressionsorgane erinnern?
Obwohl nach Genua auch den unbedarftesten FernsehkonsumentInnen klar werden musste, dass physische Übergriffe in einem erschreckenden Ausmaß von der Polizei ausgehen und zu richtiggehenden Gewaltexzessen ausarten können, wird in der hegemonialen öffentliche Debatte unter dem Begriff "Gewalt" bis heute fast ausschließlich die von DemoteilnehmerInnen diskutiert. Ein zentraler Begriff wie der der "strukturellen Gewalt" ist in den auflagenstarken Tageszeitungen und Magazinen so gut wie nicht existent. Mit etwas Glück taucht er noch in Gastkommentaren in liberaleren Medien auf, jedoch so gut wie nie im redaktionellen Teil. Die Sozialwissenschaften verstehen unter "struktureller Gewalt" Phänomene wie schlechte Arbeits- oder Wohnbedingungen, die Auswirkungen von Sexismus und Rassismus oder den gewalt- und herrschaftsförmigen Charakter der Weltwirtschaft ebenso wie all jene Reglementierungen und Schikanen, mit denen die Polizei Demonstrationen in ihr genehme Formen zu drängen versucht. Angesicht der staatlich legitimierten Gewalt, die z.B. notwendig ist, das bestehende Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten, sind Debatten, die sich an der "Gewalt" von DemonstrantInnen entfachen, geradezu lächerlich.
"Genua" macht aber auch klar, dass ein Staat durchaus Interesse an der Verlegung eines politischen Konflikts auf die militärische Ebene haben kann. Wie die Geschichte militanter Bewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt, kann der Staat eine Eskalation der Gewalt immer für die Durchsetzung seiner Interessen nützen. Gerade in Italien wurde eine Eskalation der Auseinandersetzungen im Rahmen der "Strategie der Spannung" staatlich organisiert. Geheimdienste, Carabinieri und Faschisten bombten dort gemeinsam über Jahrzehnte hinweg mit dem Ergebnis hunderter von Toten, um das Eskalationsniveau zu steigern. Mit der zunehmenden militärischen Aufrüstung der Staaten und ihrer Repressionsorgane in den vergangenen Jahren erübrigt sich die Frage danach, wer - Staat oder soziale Bewegungen - von einer Verlegung des Konflikts auf ein rein militärisches Terrain am meisten profitiert.
Die Herrschenden können "uns gar nicht als Verhandlungspartner behandeln", meint der Soziologe Riccardo Petrella. Denn das würde bedeuten, "die neue Weltordnung und vor allem die US-amerikanische Hegemonie in Frage zu stellen. Ein Dialog ist deshalb nicht möglich. Sie können sich eine Legitimität nur noch mit Gewalt verschaffen, indem sie uns kriminalisieren." Den Gewaltbegriff in der öffentlichen Debatte wieder auf jene Handlungen und systemischen Bedingungen anzuwenden, von denen das höchste Maß der Gewalt auch ausgeht, sollte daher ein vorrangiges Ziel linker Politikpraktiken sein.
"Skandal - Gewaltbereite tagten ungehindert in Münchener Luxushotel" lautet in diesem Sinne der Titel eines Textes über die NATO-Sicherheitstagung in München 2002, anlässlich derer nach einer wochenlangen medialen Denunziation der KriegsgegnerInnen ein Demonstrationsverbot wegen der behaupteten Gewaltbereitschaft der KriegsgegnerInnen durchgesetzt wurde...
Dario Azzellini (Autor und Filmemacher, Berlin) und Oliver Ressler (Künstler, Wien) arbeiten zur Zeit an einem Video über die italienische AktivistInnengruppe Disobbedienti.