Ora Bolas!
Kunst trotz(t) Krise oder Widerstand im Whitecube: Wie in Lissabon mit Überfluss gegen den verordneten Mangel angekämpft wird.
Als Teil einer geschäftig kursierenden Rhetorik des Mangels, erscheinen die Begriffe Austerität und Verschuldung in Mainstreammedien als ausgiebig benutzte Beschreibungsvokabeln für die portugiesische Aktualität. Obwohl Austeritätsmaßnahmen übersetzt die systematisch vorangetriebene Zerstörung des portugiesischen Sozialstaates bedeuten, wird in unkritischen Medien überwiegend vom Standpunkt der Zahlen aus gesprochen, alles scheint sich um staatshaushaltliche Mathematikübungen zu drehen, die das Sorgenkind Portugal unter dem kritischen Blick Europas auf der Nachsitzbank lösen muss.
Am 27.3.2012 findet im Offspace Corner College in Zürich eine Veranstaltung unter dem Titel Austerity? ORA BOLAS! Notes from Lisbon’s cultural scene statt. Mit dem Titel soll die eingangs geschilderte, verkürzte Wahrnehmungsweise mit Bezug auf aktuelle Entwicklungen in Lissabon und im Speziellen in Lissabons Kunstszene erweitert werden. Es soll von einem anderen Blickpunkt ausgegangen werden, der den bestehenden Reichtum, die Fülle von Ressourcen aufzeigt, und nicht von Knappheit, Mangel und Schuld(en) ausgeht. Es entwickeln sich derzeit in Lissabon sehr viele künstlerische Projekte und Veranstaltungen, welche nicht auf staatliche Unterstützung warten, um realisiert zu werden, sondern sich primär auf die Energie und das Imaginationspotential der Beteiligten stützen. Von dieser Vielzahl von Projekten werden wir (Ana Bigotte Vieira aus Lissabon und Sandra Lang aus Zürich) eine Initiative vorstellen, an der wir im Winter 2012 selbst beteiligt waren. Bei unserer Veranstaltung im Corner College wird es sich nicht um eine apolitische Verherrlichung der Kreativität ohne Geld und staatliche Unterstützung handeln, sondern im Gegenteil um eine Politisierung des Diskurses aus der Perspektive des aktiven Widerstands, welcher derzeit in Portugal viele Gesichter annimmt.
Es regt sich einiges in Portugal, das zeigte die Demonstration am vergangenen Samstag, als 800.000 sich alleine in den Straßen der Hauptstadt versammelten um, das Lied der Nelkenrevolution singend, ihren Dissens mit den Politiken der aktuellen Regierung laut werden zu lassen. Dass sich die Wut der Protestierenden nicht auf nationale PolitikerInnen beschränkte, sondern genauso auf die übergeordneten europäischen Strukturen abzielt, konnte man am Titel des eher populistischen Aufrufs eines Zusammenschlusses verschiedener linker Gruppierungen erkennen: „Que se lixa a troika“, was soviel heißt wie „Fuck the troika“.1 Dieser Aufruf wurde entweder mit einem Satz des Revolutionsliedes „Grandola“: „O povo mais ordena“ („Das Volk regiert“) oder mit „Queremos as nossas vidas“ (frei übersetzt: „Wir wollen, wir begehren unsere Leben“) begleitet. Der Widerstand manifestiert sich nicht nur in Form von Streiks und Großdemonstrationen, sondern täglich in größeren und kleineren Aktionen und vielseitigen Aktivitäten von Einzelnen und lokalen Gruppierungen, so auch im Kunst- und Kulturbereich, in denen Formen der gemeinsamen Organisation und Selbstverwaltung ausprobiert werden.
Ein selbstverwalteter Experimentierraum: 200 Aktivitäten in 5 Wochen
Zusammen mit Ana Bigotte Vieira werden wir an einem Abend Ende März im Corner College in einer offenen Runde über ein Projekt sprechen, das vom 23. November bis zum 29. Dezember 2012 in der städtischen Galeria Boavista stattgefunden hat. ORA BOLAS, HÁ ESPAÇO, VAMOS USÁ-LO heißt übersetzt etwa soviel wie „Jetzt geht’s los, wir haben den Raum, lasst uns ihn nutzen!“2 Im Rahmen von ORA BOLAS wurde die Galeria Boavista während fünf Wochen zu einem Ort, an dem KünstlerInnen ihre Projekte, ihr work in progress, ohne der eingreifenden Hand einer KuratorIn oder einer Institution zu unterliegen, zeigen und Ideen ausprobieren konnten. Die Galerie wurde zu einer Art geschütztem Raum, in dem gearbeitet und ausgetauscht werden konnte, in welchem der Mechanismus der steigenden Konkurrenz um die drastisch reduzierten Mittel staatlicher Kulturförderung für einmal ausgehebelt wurde. Unter dem Titel O MAPA NÃO É O DO PAÍS („Die Karte deckt sich nicht mit der des Landes“) gab es einen Aufruf für die Präsentation von Projekten, die sich inhaltlich mit der Krise auseinandersetzten. Es fanden unter anderem politische Diskussionen statt und Aktivitäten für Kinder. Innerhalb eines offenen Meetings trafen sich verschiedene Gruppierungen und Einzelpersonen, welche in der Besetzung des Rossio Platzes 2011 involviert gewesen waren. Salganhada, eine Art portugiesische Version der Occupy Wallstreet „Arts & Culture“ Arbeitsgruppe, CEM, ein experimentelles Laboratorium für Bewegungsforschung und UNIPOP, eine der „anomalen Universitäten“ ähnlich der spanischen universidad nomada.3
Strategien des Widerstands im White Cube
Nach einer anfänglich eher ruhigen Phase, in der wenige KünstlerInnen vor kleinem Publikum ihre Arbeiten zeigten oder in der gar verschiedene anwesende Kollektive und Einzelpersonen sich gegenseitig zum Publikum machten, intensivierten sich die Aktivitäten im Laufe des Monats immer mehr, wurde die Galerie zum Anziehungspunkt, bis in der letzten Woche auf den zwei Stöcken der Galeria Boavista bis zu vier Performances gleichzeitig stattfanden. Die Galerie wurde zu einem Treffpunkt, an dem viele neue Verbindungen entstanden, an dem die in Lissabon gängige Aufspaltung in eine Vielzahl von aktivistischen Gruppierungen und ein gewisses gegenseitiges Misstrauen zwischen Künstlerkreisen und AktivistInnen für kurze Zeit etwas in den Hintergrund gestellt wurde. Dieses Misstrauen besteht, obwohl sich die verschiedenen Kreise in individuellen Biographien kreuzen, man tendiert aber im Allgemeinen dazu, seine verschiedenen Aktivitäten an feinsäuberlich getrennten und jeweils für einen bestimmten Gebrauch definierten Orten nachzugehen. Während der Dauer von ORA BOLAS wurden aktivistische Strategien des Widerstands plötzlich nicht mehr nur in einem der dafür bekannten aktivistischen Treffpunkte, sondern zwischen zwei Performances bei einem Glas Rotwein und einem Stück Brot mit Ziegenkäse im White Cube abgehalten, dessen weiße Makellosigkeit durch die intensive Nutzung sehr schnell etwas lädiert und angekratzt erschien.
Die Galeria Boavista befindet sich inmitten des historischen Zentrums. Die frisch renovierte Galerie wird von der Stadtverwaltung hauptsächlich für Ausstellungen im Bereich bildende Kunst unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Sie ist nicht für kurze Nutzungen im Stil eines Abends vorgesehen und somit nicht besonders geeignet für künstlerische Projekte, die eine andere Zeitstruktur verlangen als eben Ausstellungen, wie Performances und Konzerte. Im gleichen Gebäude befindet sich in einem geräumigen Dachstock der Hauptsitz des Kollektivs Demimonde. Demimonde verbindet KünstlerInnen, welche hauptsächlich aus der Tanz-, Performance- und Theaterszene stammen und als offene Gruppe einen non-hierarchischen Austausch im Erarbeiten von experimentellen Kunstpraxen zum Ziel haben. Im September hatte eine Gruppe von KünstlerInnen, darunter auch Mitglieder von Demimonde, ein Projekt konzipiert, in dem sie eine Programmation für ein experimentelles Wochenende innerhalb der bekannten, zu einer großen Bank gehörenden Kulturinstitution Culturgest veranstalteten. Celebraçao, so der Titel, enthielt einige problematische Punkte, da, kritisch betrachtet, eine Gruppe von jungen KünstlerInnen ihre Dienste ohne Bezahlung einer großen Institution anbot, in der Hoffnung, ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Trotzdem war Celebraçao eine Art Vorläufer von ORA BOLAS.
Die unmittelbare Nachbarschaft von Demimonde zur Galeria Boavista hat dazu geführt, dass Strategien zur Nutzung des Galerieraums entwickelt wurden, welche die Hausordnung der Galerie unterliefen und andere Formate als Ausstellungen erprobt wurden. Nach mehreren Versuchen 2011 und 2012 hatte sich schließlich in einer Demimonde nahen Gruppe von KünstlerInnen und im erweiterten Kulturbereich Tätigen die Idee herausgebildet, die Galerie für einen möglichst langen Zeitraum zu reservieren. Es gelang, Boavista vom 23. November bis zum 29. Dezember „in Beschlag zu nehmen“. Statt eigene Projekte zu zeigen, wurde ein rudimentäres Kartonschild ins Schaufenster der Galerie gestellt, mit der Aufschrift „ORA BOLAS, Wir haben den Raum, lasst uns ihn nutzen!“ Darunter stand die Aufforderung, ein Proposal per Mail an Demimonde zu schicken, falls man eine Arbeit, gleich, ob fertig oder noch im Entstehen, in der Galerie zeigen wollte, egal welchen Formats.
Bei den ersten Treffen zur Organisation von ORA BOLAS gab es heftige Diskussionen, bei denen entschieden wurde, dass die Aktivitäten in der Galerie nicht als Vehikel der Promotion von Namen und Künstler-AutorInnen dienen und somit auch nicht in Anbindung an eine etablierte Kunstinstitution realisiert werden sollten, wie dies bei Celebraçao der Fall gewesen war. Einige KünstlerInnen, viele davon aus der Tanzszene, welche bei Celebraçao dabei gewesen waren, verabschiedeten sich von dem Projekt, weil die individuelle künstlerische Produktion nicht im Vordergrund stand. Der Titel ORA BOLAS, HÁ ESPAÇO, VAMOS USÁ-LO entstand in dieser Situation, erst als Witz, als eine Art Verweigerung, einen eigentlichen Namen zu finden. Gleichzeitig gab der „Titel“ treffend das Gefühl der Dringlichkeit wieder, gerade jetzt etwas zu tun, in einer Phase, in der fast alle KünstlerInnen arbeitslos waren und die staatliche Unterstützung für ihre unabhängigen Projekte 2012 nicht bekommen hatten. ORA BOLAS stand für, „Nein, wir legen unsere Hände nicht in den Schoß, wir holen uns den Raum in einer Stadt, in der es 4000 leer stehende Häuser gibt, aber fast keine Orte, an denen experimentelle Kunstpraxen erprobt werden können. Wir wollen nicht isoliert zu Hause sitzen und uns schuldig fühlen, für eine Krise, die nicht unsere ist. Wir wollen den Raum besetzen und nutzen, uns treffen, unsere Potentiale ausschöpfen und neue Formen von Kunst und von Zusammensein erproben.“
Kulturpolitik in Portugal: Krise dient der neoliberalen Umstrukturierung
Die in Portugal viel sagend „Troika“ genannte Regierung mit ihrem neoliberalen Manager-Premierminister Pedro Passos Coelho schaffte als eine ihrer ersten Maßnahmen 2011 kurzerhand das Kulturministerium ab, um den gesamten Bereich dem neu geschaffenen Posten, dem Staatssekretär für Kultur, zu unterstellen, welcher direkt vom Premierminister abhängig ist, wie es unmissverständlich auf der Webseite der portugiesischen Regierung heißt.4 Was mit Kulturförderung gemeint ist, wird dort auch gleich klar definiert: Das künstlerische Schaffen soll unterstützt, „befreit“ und gefördert werden, unter Berücksichtigung des Hinweises, dass der Staat kein Kulturproduzent sei. Dies wird im Folgenden genauer erklärt: Der kulturelle Sektor solle mit der Kreativindustrie verknüpft, die Finanzierung der Privatwirtschaft überlassen werden, das Erkennen des ökonomischen Wertes des kulturellen Sektors sei eine zentrale Aufgabe. Befreiung heißt hier konkret Befreiung von staatlichen Unterstützungsgeldern. Die staatliche Kulturförderung ist in nach Jahren unterteilte Beträge für Institutionen gegliedert und in „punktuelle“ Summen für Einzelprojekte, für die sich die Kulturschaffenden direkt bewerben. Die Letztgenannten wurden 2012 gar nicht ausgeschrieben. Man müsste nun eigentlich annehmen, dass 2012 in Lissabon eine lethargische Phase in einem wichtigen Bereich der Kulturproduktion einläutete. Dem war und ist aber nicht so, parallel zur Intensivierung der Protestaktionen gegen die Sparmaßnahmen der „Troika“ ging eine Art Schub durch Lissabons Kulturszene, welcher scheinbar vieles zum Erwachen gebracht hat.
ORA BOLAS! überall: Vom Auftauchen und Verschwinden
ORA BOLAS ist eine von vielen Initiativen, bei denen es sich nicht um eine Kreation aus dem Nichts handelt, sondern um das Sichtbarwerden einer im urbanen Geflecht von Lissabon vorhandenen Fülle an Wissen, Energie und Ideen, an Affekten und Netzwerken, die sich gegenwärtig neu formieren und zusammensetzen. Als ich Anfang Februar in Lissabon war, traf sich eine kleine Gruppe von Personen, welche sich in irgendeiner Weise an ORA BOLAS beteiligt hatte noch immer allwöchentlich bei der Galerie. Zur Frage, ob ORA BOLAS immer noch künstlerisch und politisch aktiv sei, meinte Ana vergangenen Samstag nach der Demonstration: „Wer weiß, es ist nicht so wichtig, was mit der Gruppe passiert, ORA BOLAS kann verschwinden, es wird wieder auftauchen, einmal hier, einmal dort ...“
Sandra Lang lebt in Zürich, sie war im vergangenen Jahr in mehreren Initiativen involviert, welche zwischen Kunst, kritischer Theoriebildung und Aktivismus angesiedelt sind. So im Januar 2012 in New York im Raum der 16 Beaver Group und im September in Graz. In diesem Winter war sie innerhalb von ORA BOLAS, HÁ ESPAÇO, VAMOS USÁ-LO am Programm O MAPA NÃO É O DO PAÍS beteiligt.
1 http://queselixeatroika15setembro.blogspot.com