„Occupasi“. Zur Wohnrechtsbewegung in Reggio Emilia, Italien
In Italien ist die Wohnrechtsbewegung, il movimento per il diritto alla casa – das Besetzen von Wohnungen und Häusern, Widerstand gegen Zwangsdelogierungen, Informationsarbeit über Rechte als auch politische Aktionen und Diskursbeiträge im öffentlichen Raum etc. – vor allem in den mittelgroßen und großen Städten relativ weit verbreitet, aber auch vielfältig und von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich.
In Italien ist die Wohnrechtsbewegung, il movimento per il diritto alla casa – das Besetzen von Wohnungen und Häusern, Widerstand gegen Zwangsdelogierungen, Informationsarbeit über Rechte als auch politische Aktionen und Diskursbeiträge im öffentlichen Raum etc. – vor allem in den mittelgroßen und großen Städten relativ weit verbreitet, aber auch vielfältig und von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich. In Rom wurden mit dem Kollektiv Action ganze Gebäude mit teils mehreren hundert MigrantInnen besetzt, in Neapel leben tausende „ganz normale“ neapolitanische Familien schlicht aus finanzieller Not in ehemals leerstehenden Wohnungen, ohne dies jemals öffentlich kundzutun; in Florenz ist seit mehr als einem Jahr ein ehemaliger Spitalskomplex mit riesigem Areal von mehreren hundert Familien unterschiedlichster Herkunft besetzt, nun wohnt dort die „multiethnische Community Luzzi“.
In Bologna lebten in etwa 15 verlassenen Gemeindewohnungen StudentInnen und zwei Familien der Kollektive Mao und Passe Partout – Mitte Oktober wurden eben diese an einem verregneten Dienstag bei Morgengrauen geräumt, indem das gesamte Viertel mit hunderten Carabinieri und Polizisten abgeriegelt und militarisiert worden war (1). Es ist schwierig, diese Bewegung, die vom Recht auf Wohnen als einem Grundrecht ausgeht, in einem kurzen Artikel zu fassen und zu verallgemeinern. Hier soll nun das vielleicht ungewöhnliche Beispiel einer relativ jungen Bewegung in Reggio Emilia, einer mittelgroßen Stadt in der Emilia Romagna, etwa 80 km nordöstlich von Bologna gelegen, skizziert werden. In dieser Stadt ist das autonome Collettivo Sottotetto für den politischen Diskurs um das Recht auf Wohnen verantwortlich.
Zum politischen Repertoire des Kollektivs, das von AktivistInnen des centro sociale, des besetzten sozialen Zentrums Laboratorio AQ 16 in Reggio Emilia ins Leben gerufen wurde, zählen verschiedene Aktionsformen. Unter anderem organisierte das Collettivo Sottotetto ein zweiwöchiges Kunstprojekt, „habitat“, das von der Besetzung einer Wohnung ausging und dessen Fokus das Arbeiten mit dem Viertel war, welches nicht nur als geographischer Raum, sondern als gelebter Raum, als urbaner Raum von Geschichte/n gesehen wurde.
Zunächst ein kurzer Einblick über die Stadt Reggio Emilia, um das Handeln des Kollektivs im spezifischen Kontext zu verstehen:
Status quo und „höchste Lebensqualität“
Die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse hat in Italien – und zwar nicht nur im Süden des Landes – absurde Ausmaße angenommen. Auch in Reggio Emilia sind 1000 Euro brutto bei einem 40 Stundenjob auch mit Universitätsabschluss (wenn man/frau das Glück eines fixen Arbeitsvertrags hat) normal. Für viele Menschen ist es unmöglich sich eine eigene Wohnung von mindestens 600 Euro aufwärts zu leisten, viele leben mit 35 noch bei ihren Eltern, andere mieten sich in einem Doppel- oder Dreibettzimmer ein, die wenigen Schlafsäle der Caritas sind nicht nur im Winter überfüllt. Tausende Wohnungen stehen zu Spekulationszwecken leer. In Reggio wurden in den letzten 15 Jahren 14 000 neue Wohnungen gebaut, fünfmal mehr als etwa in Bologna. Die Anzahl der Gemeindewohnungen hat jedoch nicht zugenommen, 5000 Menschen stehen hierfür auf der Warteliste.
In Reggio scheint es diese Probleme offiziell jedoch nicht zu geben: Laut einer groß im Stadtzentrum plakatierten Statistik ist Reggio die Stadt mit der höchsten Lebensqualität in ganz Italien. Warum, wissen wohl viele nicht. Hier wird mit „linker“ Rhetorik neoliberale Politik gemacht, Strategie der Stadtregierung ist es seit Jahrzehnten, soziale Konflikte nicht offen ausbrechen zu lassen.
Das quartiere popolare Compagnoni
Während also in Reggio Emilila Einkaufszentren und tausende neue Eigentumswohnungen aus dem Boden gestampft werden, um so das Bild der erfolgreichen konsumierenden Middle-Class auch architektonisch zu verwerten, soll das letzte historische quartiere popolare, das Viertel Compagnoni mit etwa 400 Sozialwohnungen abgerissen werden. Ein ArbeiterInnenviertel, noch dazu sehr nahe am historischen Zentrum gelegen, ist ein dunkler Fleck in der Stadt der neuen Mittelschicht, die der Vorsitzende der neuen PD (Partito Democratico), Walter Veltroni, als DIE Modellstadt Italiens bezeichnet hat. Es gehört weg. Soll geschliffen, die BewohnerInnen großteils in andere Teile der Stadt verfrachtet werden. An dessen Stelle ist der Bau 160 neuer Wohnungen, die zur Hälfte Eigentumswohnungen werden sollen, geplant. Aufgrund dieses bis vor kurzem noch sehr unpräzisen Vorhabens stehen viele Wohnungen teilweise seit über 10 Jahren leer: verlassen, unmöbliert, teils mit offenen Fenstern und von Tauben bewohnt, teils mit zerschlagenen Sanitäranlagen, um das Besetzen schwieriger zu machen.
Aus Scham wird Wut – „Occupasi“/„Zu besetzen“
Diese Widersprüche aufzuzeigen ist Teil der Arbeit des Collettivo Sottotetto. Ein wöchentlicher „Informationsschalter“ des Kollektivs informiert über Wohnrecht, Notschlafstellen und gegebenenfalls über die Lokalisierung leerstehender Wohnungen. Er trägt auch dazu bei, prekäre Lebenssituationen, Armut und Wohnungsnot nicht als individuellen Einzelfall zu begreifen, nicht als persönliches Versagen, sondern als kollektive Erfahrung, die mit allgemeinen gesellschaftlichen und bewusst gewählten Entwicklungstendenzen zu tun hat. So das Kollektiv: „Wir beginnen bei der Problematik des Wohnens, um einen Weg der Rebellion, des Kampfes und der Wiederaneignung von Rechten, die uns in letzter Zeit immer mehr verweigert werden, zu beschreiten. Wir beginnen bei dieser Problematik, weil es schwierig ist, ohne ein Dach über dem Kopf den eigenen Weg zu gehen.“
Sieben Wohnungen wurden vom Kollektiv in dem historischen quartiere popolare im Laufe der letzten zwei Jahre besetzt. Bewohnt von jungen Menschen, StudentInnen, prekär Beschäftigten und zwei Familien. Die Besetzungen geben nicht nur real benötigten Wohnraum, sondern sind auch ein symbolischer Bruch, da es in den letzten Jahrzehnten in Reggio Emilia keine öffentlich gemachten Wohnungsbesetzungen gab.
Habitat
Die siebte Wohnung wurde im September im Rahmen eines zweiwöchigen politischen Kunstprojekts, „habitat“, welches vom Kollektiv in Zusammenarbeit mit KünstlerInnen aus Italien und Schweden realisiert wurde, besetzt und wird nunmehr von zwei jungen prekär beschäftigten Menschen bewohnt: „habitat ist eine Erfahrung von Kulturaktivismus, in dem der Stadt ein Weg der Wiederaneignung von unten vorgeschlagen wird: eine Wiederaneignung von Räumen und kollektiven Gütern wie dem Recht auf eine Wohnung und dem Recht auf Kultur als integrale Bestandteile würdevollen Lebens.“
Diese Wohnung wurde von zwei schwedischen Kunstaktivisten innerhalb von zwei Wochen zu einer „Modellwohnung“ renoviert und ummodelliert, sodass sie einem Werbekatalog für neue Eigentumswohnungen entspringen könnte: es wurde geputzt, gewaschen, geschraubt, die Böden und Fensterbretter wurden abgeschliffen, die grüngrauen Fensterläden gestrichen, die Wände weiß bemalt, neue Türen eingesetzt, Lampen gekauft, die zerschlagenen Sanitäreinrichtungen ersetzt. Weiß, strahlend, fast steril wirkte sie am Abend der Präsentation des Projekts. Perfekt, nahezu fremd in diesem Viertel, das seinen Charme aus dem „Altmodischen“, dem Nicht-Perfekten schöpft. Die Entscheidung, diese besetzte Wohnung in dieser Form zu renovieren, war eine politische: 90 Quadratmeter strahlendes Weiß und „perfekter Wohnraum“ in einem Viertel, das weg soll, um eben solche neue, strahlend weiße Wohnflächen mit Millionen an Euro zu erbauen. Nicht nur das, sondern noch dazu renoviert von denen, die „illegal“ besetzen, und zwar in kürzester Zeit und ohne einen Euro an (öffentlichem) finanziellem Aufwand.
Autonome Renovierungsarbeiten in ehemals verlassenen Gebäuden sind integraler Bestandteil jeglichen Besetzens. Im Rahmen von habitat wurde dieser Aspekt thematisiert, öffentlich gemacht, künstlerisch verarbeitet. Besetzen ist auch ein konstruktiver Prozess, es werden nicht nur Räume eingenommen, sondern auch umgestaltet, wieder nutzbar und lebbar gemacht und somit „geschaffen“.
Doch es ging nicht darum, das perfekte Viertel zu wollen, die Art und Weise der Renovierung der Wohnung war auch eine ironische Überhöhung der hegemonialen Wünsche nach Perfektion und Sauberkeit. Die KunstaktivistInnen gingen vom „Scheitern der ‚perfekten Stadt’ aus, vom Staub unter dem Teppich derjenigen, die hinter dem Wort ,Requalifizierung’ die Absicht verstecken, ein common good wie öffentlichen Wohnbau zugunsten des privaten Profits zu opfern, und von der Lächerlichkeit derjenigen, die die Rolle von Kunst und Kultur in wenigen, übertrieben teuren und von oben herab entschiedenen, bestimmten Events definieren wollen.“
Bei habitat waren die BewohnerInnen des Viertels und deren alltägliche Ge-schichte/n Thema: „Das Viertel, in dem die KünstlerInnen arbeiten, hat eine Identität, die sich mit der Zeit, mit sozialen, kulturellen und politischen Einflüssen verändert hat. Es wurde eine ,Karte’ des Viertels gezeichnet, und zwar mit Hilfe eines Historikers, eines Soziologen und Urbanisten, aber vor allem durch die Gespräche mit den Menschen, die in diesem Viertel wohnen bzw. gewohnt haben.“
Thematiken wie Peripherie und Zentrum, öffentlicher und privater Raum, die Konstruktion von Normalität und A-Normalität sowie von Einschließen und Ausschließen wurden diskutiert und künstlerisch bearbeitet. Abendliches Zusammenkommen und Aperitivo-Trinken im Hof zwischen KünstlerInnen, AktivistInnen und BewohnerInnen des Viertels waren integraler Bestandteil des Projekts. Bei der im Viertel selbst stattfindenden Abschlusspräsentation wurden die künstlerischen Arbeiten, Videoprojektionen, Klanginstallationen, Performances und Arbeiten mit Licht ebenso wie die renovierte Wohnung gezeigt, diskutiert und öffentlich zugänglich gemacht.
Den AktivistInnen des Sottotetto geht es darum, den politischen Diskurs um Wohnen zu beeinflussen, zu stören, zu verändern, und auch darum, ihn mit anderen Thematiken zu verbinden. Denn eine Wohnung wird als Ausgangspunkt gesehen, um dann andere selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können: „Ich brauche zunächst ein Dach über dem Kopf, um dann die Welt bereisen zu können.“
Anmerkung
(1) Im Oktober wurde eine Frau, die mit ihren Kindern in einer besetzten Wohnung in Rom gelebt hatte und deshalb geklagt wurde, vom Obersten Gerichtshof für unschuldig erklärt: Besetzen im Falle von Armut ist kein Delikt. Diese Entscheidung wurde für einen „Einzelfall“ getroffen und ist nicht allgemein gültig. Und: wer ist „arm“? Alleinerziehende Mütter ohne Einkommen, StudentInnen, prekär Beschäftigte oder MigrantInnen mit bzw. ohne Aufenthaltsgenehmigung? Dieses Gerichtsurteil schützt, wie man/frau in Bologna sah, nicht vor Räumungen. Dennoch ist diese Entscheidung des Obersten Gerichtshofes symbolisch sehr wichtig: Der Gerichtshof hat das Recht auf ein Dach über dem Kopf als elementares Recht anerkannt.
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Stephanie Weiss ist Politologin und lebt in Wien und Italien.