„Everyone is Creative“. KünstlerInnen als PionierInnen der New Economy?
Das Grünbuch beginnt mit den Worten „Everyone is Creative“ und schnell werden die grundlegenden Ideen klar. Der Ansatz besteht darin, den Zugang zu Kunst und Kultur für ProduzentInnen ebenso wie für KonsumentInnen zu erweitern, besonders für jene, die diese Felder bisher nicht als „die ihren“ betrachteten.
Individualisierung ist eine Regierungsstrategie, die im Kontext der Kulturindustrien einer überholten modernistischen Konzeption individueller Kreativität als innerer Kraft, die nur darauf wartet, losgelassen zu werden, neues Leben einhaucht. So zielt etwa das Grünbuch der New-Labour-Regierung vom April 2001 unter dem Titel „Kultur und Kreativität in den nächsten 10 Jahren“ – wissenschaftliche Arbeiten und Texte über die sozialen und kollektiven Grundlagen kreativer Produktion hinwegfegend – darauf ab, einen traditionellen Begriff der Talenterschließung wiederauferstehen zu lassen. Quelle solch eines Talents ist selbstverständlich „das Individuum“, das bei entsprechender Förderung seinen oder ihren eigenen Möglichkeiten der Erkundung der persönlichen Kreativität, ungehindert von Bürokratie und Verwaltung, überlassen werden kann.
Das Grünbuch beginnt mit den Worten „Everyone is Creative“ und schnell werden die grundlegenden Ideen klar. Der Ansatz besteht darin, den Zugang zu Kunst und Kultur für ProduzentInnen ebenso wie für KonsumentInnen zu erweitern, besonders für jene, die diese Felder bisher nicht als „die ihren“ betrachteten. So dient die Förderung der gesellschaftlich Benachteiligten zur Entwicklung ihrer kreativen Potenziale einem doppelten Zweck: der Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit zukünftiger Generationen inklusive derer aus Niedrigeinkommensschichten durch die Lenkung ihres kreativen Talents in Richtung ökonomischer Aktivität, und gleichzeitig der Herbeiführung des Übergangs von der/m MassenarbeiterIn zur/m individuellen Selbstständigen. Die im Grünbuch gebrachten Vorschläge für staatliche Maßnahmen zur „Freisetzung des individuellen kreativen Potenzials“ werden – neben der anerkannten gesellschaftlich wertvollen Rolle von Kunst und Kultur – gestützt von ihrem potenziellen Beitrag zum ökonomischen Wachstum, da die Kulturindustrie, wie das Papier behauptet, ein Wachstum von „16% jährlich“ aufweist. Das Wachstum, auf das hier Bezug genommen wird, ist fast zur Gänze das Resultat von Expansionen im Software- und Computerdienstleistungsbereich, der seit 1998 einen Zuwachs von fast 135.000 Jobs verzeichnete. Das Kleingedruckte aber enthüllt, dass diese Zahl „Angestellte, Selbstständige ebenso wie unbezahlt in Haushalten Tätige und Menschen in arbeitsmarktpolitischen Trainings“ umfasst. Betrachtet man in Relation dazu den Bereich des Modedesigns, sehen wir, dass 75% der Firmen einen Umsatz von weniger als 1 Million £ haben, was meinen Untersuchungen zufolge bedeutet, dass die DesignerInnen selbst oft mit weniger als 20.000 Pfund im Jahr überleben (McRobbie 1998), und dass es die ca. 200, zu einem bestimmten Zeitpunkt existierenden Firmen fünf Jahre später möglicherweise gar nicht mehr gibt. Trotzdem verkündet die Überschrift zu dem entsprechenden Kapitel im Grünbuch, dass der britische Modesektor der viertgrößte der Welt sei. Egal wie wichtig die Kulturindustrien für das Wachstum sein mögen, es ist ein Sektor mit niedrigen Profitraten, und auch wenn die Beschäftigungssituation, besonders in der Selbstständigkeit, lebhaft sein mag, handelt es sich um einen Niedriglohnsektor („working poor“). Schließlich ist dieser Bereich ebenso unbeständig und ebenso anfällig für multinationale Kapitalbewegungen wie weitaus traditionellere Bereiche, z.B. die Bekleidungsindustrie. Wenn ich sage, dass wir derzeit die Vollendung der Neoliberalisierung der britischen Kulturökonomie vorgelegt bekommen, ist die Frage: was bedeutet das? Die andere Frage ist, wie der unerbittliche Individualisierungsprozess im Bereich der Kulturarbeit von der scheinbaren Unvermeidlichkeit des lokalen und globalen Neoliberalismus getrennt und umgeleitet werden kann als eine Kraft zur Wiederbelebung des Demokratisierungsprozesses? Können diese unsozialen Kräfte zurückgedrängt werden? Vom Standpunkt einer New Labour Regierung finden wir im Bereich der Kultur- und Kreativindustrien den stärksten Ausdruck eines „idealen lokalen Arbeitsmarkts“. Mehr als nach einem Arbeitsmarkt als solchem verlangt dies aber nach einem Netzwerk von Kreativen, für die Jobs oder Projekte verhandelt werden wie bei SchauspielerInnen, die für eine „Rolle“ vorsprechen. So haben wir das eigenartige Szenario einer Mittelinksregierung vor uns, deren Priorität eine doppelte Neoliberalisierung ist: Erstens die Sozialleistungen für jene, die nicht dazu in der Lage sind, ein existenzsicherndes Einkommen zu beziehen, auf ein Minimum zu reduzieren (sodass sich Einkommen heute aus mehreren Quellen speisen, indem „Kreative“ zwei oder drei Jobs gleichzeitig ausüben) und zweitens die Individuen hinsichtlich der Arbeitsplatzbeschaffung auf ihre eigenen Möglichkeiten zu verweisen, damit die großen Unternehmen weniger mit der Verantwortung für die ArbeiterInnenschaft belastet sind. Die Antwort von New Labour auf die vielen Probleme in weiten Teilen der Bevölkerung – wie zum Beispiel für Mütter, die noch nicht bereit sind, zu einer Vollzeitbeschäftigung zurückzukehren – ist „Selbstständigkeit“: Gründe dein eigenes Unternehmen, sei frei, mach dein eigenes Ding. Lebe und arbeite wie einE KünstlerIn. Sharon Zukin schrieb in den 1980ern darüber, wie es in den früheren Industrievierteln von New York zum Aufstieg des Lebens in Lofts kam, als die KünstlerInnenwohnungen zu Modellen für urbanen Mittelklasse- Lifestyle wurden (Zukin 1982). Wir können dies heute auf die Behauptung ausdehnen, dass die Erwerbsformen von KünstlerInnen zu einem Modell für Erwerbstätigkeit ebenso wie für Lifestyle werden. Das ist die Logik des „Everyone is Creative“.
Die Ungerechtigkeit des Informellen, die Grausamkeit der Coolness
In den beschriebenen Bereichen zu arbeiten, verlangt Ausdauer und Durchhaltevermögen. Beträchtliche Zeit und Energie muss in Aktivitäten investiert werden, für die es absolut keinen sicheren Rücklauf gibt. Fundraising für Sponsoring, um neue Ausrüstung kaufen zu können, die Organisation von Treffen, um mögliche Kooperationen zu diskutieren, ganz einfach „in Verbindung bleiben“ mit den Netzwerken, braucht Zeit und Geld. Oft finden diese Aktivitäten in Gestalt von etwas ganz anderem statt, der Teilnahme an einer Launch-Party oder einer Veranstaltung in der Kunst- oder Kulturszene. „The club is the hub“, oder wie Castells es nennt, das „Innovationsmilieu“ (Castells 1996). Die Energie und die Investition von Zeit in diese kulturelle Form der Arbeitsplatzbeschaffung markieren einen Bruch mit älteren Begriffen von „Arbeit“, „Arbeitsplatz“ oder Karriere. Doch sind sie auch Ursache von neuen Ungleichheiten. Wie einige in Glasgow durchgeführte Studien gezeigt haben, sind diese Arbeitsfelder auch Felder „ästhetischer Arbeit“, in denen auf Grund des richtigen Aussehens, der Figur oder sogar des Akzents Jobs vergeben werden (Warhurst et al. 2000). Altersbeschränkungen kommen ebenso zum Tragen wie versteckte Variablen von Klasse und kulturellem Kapital. Dies schafft eine neue, möglicherweise noch unüberwindbarere Barriere, beispielsweise zwischen jungen Müttern, die nicht über die Zeit für After-Work-Networking haben und anderen jungen Frauen, für die die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit ständig verschwimmt. Projekte, von denen man simpel durch Hören- Sagen erfährt, scheinen reines Glück zu sein. Die zunehmend verschwindenden Strukturen werden durch eine „Szene“ oder eine „Atmosphäre“ ersetzt, in denen die Begeisterung für „Talent“ und die verschwimmende Schnittstelle zwischen Arbeit und Freizeit jene materiellen Hindernisse verschleiern, die die Mobilität und Selbstentdeckung von „Talent“ erschweren. Es muss nicht eigens darauf hingewiesen werden, dass ältere Menschen es sich nicht leisten können, diese Risiken einzugehen. Die jungen Menschen in diesem Bereich hingegen sind ausgewählte AgentInnen einer neoliberalen Ordnung, von denen erwartet wird, dies bis zur Erfüllung durchzuziehen; sich einzig auf ihre eigenen Talente verlassende, einsame, mobile, überarbeitete Individuen, für die gesellschaftliche Verbindungen und Freizeit nur weitere Möglichkeiten der Jobbeschaffung darstellen. Das Grünbuch schafft die Kategorien von Talent und Kreativität als disziplinierende Regimes. Ihren Subjekten wird – anscheinend von der Geburt an über die Grundschule, Mittelschule bis zur Uni – beigebracht, sich selbst zu beobachten und tief in sich nach Qualitäten zu suchen, die ihnen in der Zukunft dienen werden. Wenn Kultur als „komplizierte strategische Situation“ (Spivak 1999) gedacht wird, dann besteht der geniale zusätzliche Dreh dieser neuen Diskursbildung darin, dass man gleichzeitig ältere Abhängigkeitsstrukturen von Arbeitsmärkten, von blödsinnigen Arbeitszwängen, von Routine und sinnlosem Tun loszuwerden scheint. Hier gibt es nun Raum für „Spaß an der Arbeit“ und dies hat, wie Donzelot zeigt, den unglaublichen Vorteil, das Individuum – indem sein authentisches Ich angesprochen wird – in ein williges Arbeitspferd zu verwandeln, das sich selbst geißelt, wenn sich die Inspiration nicht sofort materialisiert (Donzelot 1989). Am wichtigsten aber ist die Qualität der Abkoppelung, denn das Ziel besteht darin, als Individuum erfolgreich zu sein. Erfolg bedeutet hier aber: selbstverantwortlich, selbstständig und in erfolgreicher Weise unabhängig von Staat, Sozialhilfe und öffentlicher Förderung. Dies ist eine Möglichkeit, die zukünftige Arbeitswelt zu transformieren.
Post-individualistische kulturelle Praxis
Für SoziologInnen, die Möglichkeiten „kreativer Arbeits-Solidaritäten“ finden wollen, stellt dies eine große Herausforderung dar. Wenn die Institutionen (oder Nicht-Institutionen) der neuen Kultur „fast unerkennbar“ sind, dann folgt daraus, dass das, was – in welcher politischen Sozialität auch immer – zum Vorschein treten wird, dies in einer fast unvorhersehbaren Form tun wird. Wenn selbst der Begriff der neuen Sozialbewegungen heute nicht auszureichen scheint, um die Mobilität der Arbeitskraft (Hardt / Negri 2000) nachzuzeichnen und ihr Potenzial für etwas Stabileres und Konkreteres nutzbar zu machen, dann denken wir möglicherweise an post-individuelle politische Organisationsformen. Man könnte erwarten, dass aus der neuen Arbeit („new Labour“ – welche Ironie) auf einer fluiden, internationalen Ebene neue Allianzen entstehen werden zwischen den SelbstausbeuterInnen zu Hause, die – darauf hoffend, die nächste Stella McCartney zu werden – über ihren Nähmaschinen schwitzen, und den Näherinnen für Gap in Südostasien, die in letzter Zeit zum Objekt der Aufmerksamkeit der antikapitalistischen Protestbewegungen geworden sind. Ein Schlüsselelement in der Kette von Äquivalenzen, durch die Allianzen und Partnerschaften in diesem Bereich jugendlicher kreativwirtschaftlicher Aktivitäten gebildet werden könnten, ist die interventionistische Rolle von Intellektuellen einer möglicherweise „älteren Generation“. Wir müssen uns mit dem Eingebettetsein von Wirtschaftsstudien und Unternehmenskultur in einer Bevölkerung auseinandersetzen, die nicht mehr aufgewachsen ist in einem Wohlfahrtssystem, mit „Öffentlichkeitsbewusstsein“ und Anstellungen im öffentlichen Bereich. Denn wenn diese Kategorien nicht mehr existieren, dann gibt es auch deren Subjekte nicht mehr.
Literatur
Castells, M. (1996): The Rise of the Network Society, The Information Age: Economy, Society and Culture, Vol. I.
Donzelot, J. (1991): Pleasure in Work. In: Burchell, G. et al (eds.): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, 251–280
Green Paper (2001): Culture and Creativity Ten years On
Hardt M. / Negri A. (2000): Empire
McRobbie, A. (1998): British Fashion design – Rag Trade or Image Industry?
Spivak, G. (1999): A Critique of Postcolonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present
Warhurst C. et al. (2000): Looking Good, Sounding Right. Style Counselling for the Unemployed in Industrial Society
Zukin, S. (1982): Loft Living as “Historic Compromise” in the Urban Core. In: International Journal of Urban and Regional Research 6, 256–67
Angela McRobbie ist Professorin am Goldsmiths College / University of London. Der vorliegende Artikel ist eine gekürzte Version von „Everyone is Creative“ (in: Silvia, E. / Bennett T.: Contemporary Culture and Everyday Life. sociologypress 2004), übersetzt von Therese Kaufmann.