Andere Bicentenarios
<p>Die Casa de Murillo in La Paz ist bisher das zentrale Museum zur nationalen Geschichte der Befreiung Boliviens. Man kann eine Pinakothek kolonialer Gemälde und ethnografischer Objekte besichtigen, den Saal der Verschwörer, einige Schlafzimmer und mehrere Salons. Pedro Domingo Murillo, ein reicher Bürger aus La Paz, war an Verschwörungen gegen die koloniale Regierung beteiligt. 1810 wollten die Verschworenen die Schwächung Spaniens durch die bonapartistische Besetzung
Die Casa de Murillo in La Paz ist bisher das zentrale Museum zur nationalen Geschichte der Befreiung Boliviens. Man kann eine Pinakothek kolonialer Gemälde und ethnografischer Objekte besichtigen, den Saal der Verschwörer, einige Schlafzimmer und mehrere Salons. Pedro Domingo Murillo, ein reicher Bürger aus La Paz, war an Verschwörungen gegen die koloniale Regierung beteiligt. 1810 wollten die Verschworenen die Schwächung Spaniens durch die bonapartistische Besetzung für einen Staatsstreich ausnutzen, was aber missglückte. Murillo wurde inhaftiert und kurz danach hingerichtet.
Zwei Bilder in der Casa de Murillo in La Paz
Als wir das Museum in Dezember 2008 besuchten, sahen wir in einem der Salons zwei Bilder einander gegenüber aufgehängt. Eines zeigt Murillo kurz vor der Hinrichtung, wie er sich noch einmal umwendet und jenen Spruch ausruft, der seit Generationen zum Curriculum bolivianischer Geschichtsstunden gehört: „Compatriotas, yo muero, pero la tea que dejo encendida nadie la podrá apagar, ¡viva la libertad!“ (Patrioten, ich sterbe, aber die Fackel bleibt angezündet, und nichts kann sie auslöschen, es lebe die Freiheit). Es ist eine aus Opern, Dramen, Filmen und Shows geläufige Szene der bürgerlichen Selbstinszenierung, ein Held im Zentrum, umgeben von einem Chor der Soldaten, Henker und BürgerInnen. Im Hintergrund dieses Bildes erkennt man indigene Personen, die auf der Mauer sitzen. Sie sind selbst von diesem Chor ausgeschlossen.
Nun zum anderen Bild. Es zeigt die Belagerung der Stadt La Paz durch Tupac Katari 1781, also 30 Jahre vor dem Datum, auf das sich das Bicentenario bezieht. Hier gibt es kein zentrales Individuum und seinen Chor. Die Stadt scheint nicht von Menschen, sondern von Zeichen umzingelt zu sein. So undarstellbar sind die Aufständischen für den Maler. Edgar Arandia, der Direktor des Museo Nacional de Arte in La Paz, schreibt zu diesem Bild und seiner Geschichte: „Die Aufstände der indigenen Bevölkerung Boliviens, die sich durch das gesamte 18. Jahrhundert ziehen, hatten ihren Ursprung in Chayanta, einer indigenen Siedlung in unmittelbarer Nähe der Minen von Potosí. Der Vizekönig Toledo hatte 1574 durch einen Erlass die Mita eingeführt, durch die es möglich geworden war, 4.500 Arbeiter in drei Schichten zur Arbeit im Bergwerk zu verpflichten. Diese Wirtschaftsplanung funktionierte fast ein Jahrhundert lang mit überlangen Arbeitstagen, und viele Indigene aus der Nähe der Minen flohen vor ihr in andere Gegenden. Lebensbedingungen wie die beschriebene waren der Grund, auf dem die Aufstände gediehen. Der Streit um den Kazikenposten zwischen Blas Bernal und Tomás Katari, der am 15. Januar 1781 ermordet wurde, führten zu Aufständen wie dem von Sorata und letztendlich zu dem von Cusco unter Tupac Amaru und zur ersten Belagerung von La Paz im Jahr 1781, die von Tupac Katari und seiner Frau Bartolina Sisa angeführt wurde und die Motiv des Bildes von Olivares aus dem Jahr 1888 ist. Das Bild von Olivares wurde 1888, über ein Jahrhundert nach der Belagerung, angefertigt ... Auf dem Bild versucht der Maler die von Mauern umgebene Stadt wie ein Damespielbrett aufzuteilen, in die indigenen und die rein spanischen Bezirke. Diese urbane Anordnung war den Vorstellungen der Criollos entsprungen und gleichzeitig traumatische Erinnerung an die Belagerung, in deren Folge 1825 die Republik Bolivien, und mit ihr der erneute Ausschluss der Indigenen, gegründet wurde.“ (Arandia 2010: 146) Arandia vergleicht die Anordnung des Bildes mit den gegenwärtigen Aufständen: „Zwischen 1990 und 2006 gab es viele indigene Stürme auf La Paz – in Form von Protestmärschen, die aus allen Gegenden des Landes kamen. Sie schürten Angst bei den Präfekten der Bezirke, die mehrere Male die ,Verteidigung‘ der Stadt gegen den ,Indianereinfall‘ organisierten, und damit den Riss zwischen zwei Welten reproduzierten, die darum kämpfen, zu einer zu werden. Das Bild des Cerco de La Paz zeigt auf eindringliche Weise, wie historizistische Projektionen verkehrt werden können.“ (ebd.) Diese Diskrepanz zwischen den beiden Bildern macht deutlich, dass die Befreiung und die Nationalisierung der kolonialen Regierung in einzelne Republiken ein kreolisches (spanischstämmiges) Projekt war. Es schloss die indigene Bevölkerung von jeder Form der Mitbestimmung in den neuen Nationalstaaten aus, wenn sie nicht sogar eliminiert wurde. 1878 begann zum Beispiel in Argentinien der Feldzug des Generals Roca gegen die Mapuche Indianer in Patagonien, die sogenannte Wüstenkampagne, die durch den Beschluss des Parlaments ausdrücklich die Eliminierung der Mapuche Indianer vorsah und durchführte.
Principio Potosí
Im Bicentenario begeht eine bürgerliche Elite ihre Gründungsgeschichte. Diese Nationalisierung war ein Projekt, das zwar gegen Kolonialregierungen, aber nicht gegen Europa gerichtet war. Es war vielmehr die Fortsetzung eine Kooperation von Ausbeutung und Inwertsetzung von Ressourcen und Menschen diesseits und jenseits des Atlantiks, nur mussten die Strukturen der Herrschaft aktualisiert werden. Wenn nun das Bicentenario gefeiert wird, fließen auf beiden Seiten des Atlantiks viele Gelder in die Kulturetats, die dieses Ereignis begehen sollen, unter anderem auch in das Projekt Principio Potosí, das ich (zusammen mit Max Jorge Hinderer und Andreas Siekmann) kuratiert habe.
Ein paar Worte zu diesem Projekt, das auch das Bild von Mariano Olivares zeigt: Potosí ist eine Minenstadt in Bolivien, die im 16. Jahrhundert prächtiger war als London oder Paris. Das dort in Zwangsarbeit geförderte Silber trug entscheidend zur Entwicklung des europäischen Kapitalismus bei. Im Zuge dieser kolonialistisch-ökonomischen Dynamik wurde eine Massenproduktion von Bildern nicht nur in Europa, sondern auch im Vizekönigreich Peru freigesetzt. Die im Projekt Potosí-Prinzip vorgestellten Bilder des „andinen Barocks“ bezeugen, dass kulturelle Hegemonie keine symbolische Größe ist, sondern eine Gewalt. In dem Projekt beantworteten zeitgenössische Künstler die barocken Bilder mit eigenen Arbeiten. Ziel dieses Dialogs war es, zu zeigen, dass es Zusammenhänge gibt zwischen der Funktion der Kolonialmalerei und der Funktion, die das Kunstsystem heute übernimmt, um die neuen Eliten der Globalisierung mit Legitimität auszustatten. Principio Potosí wurde im Museum Reina Sofia in Madrid (Mai bis September 2010) gezeigt, gastiert jetzt gerade im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, und im März 2011 wird es in La Paz zu sehen sein.
Vielleicht diente gerade dieses Projekt in diesem Rahmen als Liberalitätsbeweis der betreffenden Regierungen, und natürlich können wir behaupten, dass das Projekt gegen eine Affirmation dieser Nationalstaatengründung zu agieren versuchte, aber im Lauf der Arbeit daran verschwand das Bicentenario mehr und mehr aus dem Feld unserer Aufmerksamkeit. Uns kam es so vor, als ob die Feierlichkeiten zum Bicentenario sich im Bereich der diplomatischen Protokolle oder der angeordneten öffentlichen Events bewegten, die gegenüber der politischen Dynamiken der Gegenwart seltsam hilflos, leer und auch irgendwie peripher erschienen.
Andere Bicentenarios
Aber das gilt nur für unsere Sichtweise. Im Dezember 2008 gab es zum Beispiel ein Treffen von WissenschaftlerInnen und AktivistInnen aus den Argentinischen Provinzen Patagonien und Salta, aus Chile, Uruguay und Bolivien im Goethe Institut in Buenos Aires unter dem Motto „Otros Bicentenarios“. Sie verfassten folgende Erklärung, aus der wir einige Passagen zitieren möchten:
„In der Absicht, das 200jährige Jubiläum der Unabhängigkeit Lateinamerikas nicht nur als pompöses Schaufenster zu sehen, in dem sich die Macht der amtierenden Funktionäre in Form von autoreferentieller Pracht und rühmenden Gesten spiegelt, wollen wir diese Feierlichkeiten anders denken. Indem wir es in Angriff nehmen, uns auf verschiedene Weisen unserem ,Hier‘ und ,Jetzt‘ zu nähern. Es geht darum, an die Ausgangspunkte zu gelangen, die es erlauben, diese 200 Jahre ,weißer‘ neuspanischer Regierungen im Afro-Indigenen Amerika inklusive ihre karibischen Ecken neu zu deuten. Es geht darum, an Wendepunkte zu gelangen ausgehend von der Selbsterkenntnis, vom Blick ins innere, die ein unabhängiges Denken generieren, umgeben von Rändern, durch Umdrehen (zu Lasten) der kolonialen Verkehrung der Verhältnisse, die die Pferde vor diesen Wagen stellte: ,Zuerst der Profit und die Institutionen, dann die Regeneration der Lebenden und des Lebens‘. Die Lebenden und das Leben (den Menschen und die Natur, welcher sie angehören) in den Dienst der politischen und ökonomischen Institutionen zu stellen heißt in Wirklichkeit, den Tod zu naturalisieren, statt das Leben zu regenerieren, zu ernähren und zu genießen. Wir wollen imstande sein, die Akkumulationsdynamik zu überwinden, für welche jedes Leben entbehrlich und dem Nutzen unterworfen ist. Wir wollen die messianische Gewissheit überwinden, die die Zukunft in Besitz nimmt und die Körper überflüssig macht. Das Übermaß dieser Körper wird durch das Dispositiv einer allgegenwärtigen Gewalt von ihren Territorien getrennt, die Gefühle werden kontrolliert, die Emotionen manipuliert und das Denken vereinheitlicht.“ (1)
Wem diese antikapitalistische Emphase angesichts des Bicentanrios übertrieben vorkommt, der kann auf der genannten Webseite auch Berichte über den Raubbau an Ressourcen, die ständige Vertreibung und Vergiftung von Menschen, die Kontrolle der Landwirtschaft durch das internationale Agrobusiness, die Zerstörung von Lebensformen lesen – und darin eine andere, seit dem 16. Jahrhundert ununterbrochene Kontinuität der Wertschöpfung durch Vernichtung feststellen. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Feiern des Bicentenarios in Europa eben so entrückt in eine Staatskultur, wie oben beschrieben. Was man tun kann, wenn man dessen Teilnehmer ist, ist: Nimm das Geld und störe das diplomatische Protokoll!
Anmerkung
(1) otros bicentenarios
Literatur
Arandia, Edgar (2010): „Cerco de La Paz“. In: Creischer/Hinderer/Siekmann (Hg.): Principio Potosí, Berlin.
Alice Creischer ist Künstlerin, lebt in Berlin und hat zuletzt das Projekt Principio Potosí kuratiert.