Alle für alle. Wissenstausch bei den Genderchangers und im Eclectic Tech Carnival
Am Anfang stand kein großer Plan, keine langfristige Überlegung. Vielmehr einfach ein Bedürfnis, das von mehreren Menschen geteilt wurde. Zufälligerweise – oder auch nicht – waren diese Menschen alle Frauen, die sich Ende der 1990er Jahren im Umfeld des Hacktivist-Zentrums ASCII in Amsterdam zusammen gefunden hatten.
Am Anfang stand kein großer Plan, keine langfristige Überlegung. Vielmehr einfach ein Bedürfnis, das von mehreren Menschen geteilt wurde. Zufälligerweise – oder auch nicht – waren diese Menschen alle Frauen, die sich Ende der 1990er Jahren im Umfeld des Hacktivist-Zentrums ASCII in Amsterdam zusammen gefunden hatten. Genauso wenig wurde das Initiieren von Selbsthilfe-Computerkursen für Frauen von einer „männerfeindlichen“ Einstellung getragen: Die Initiatorinnen fanden es einfach leichter, zeitweise unter sich zu bleiben.
Diese Frauen, die sich ab 1999 Genderchangers Academy nannten, hatten ursprünglich nicht vor, eine dauerhafte Organisation einzurichten, sie wollten einander in erster Linie gegenseitig helfen, sich Software- und Programmierkenntnisse und auch technische Fähigkeiten anzueignen. Darüber hinaus war ihnen eine gewisse politische Einstellung gemein sowie die Tatsache, dass sie alle nicht aus den Niederlanden stammten. In Zusammenhang mit ASCII, das sich zum Ziel gesetzt hatte, technisches Know-how an aktivistische Kreise weiter zu geben, erwies sich gerade diese Konstellation als sehr tragfähig. Die Ausrichtung auf freie Software bei ASCII deckte sich ebenfalls mit den politischen Anschauungen der Genderchangers, die ihre technischen Fähigkeiten unabhängig von multinationalen Konzernen und kommerziellen Providern weiter entwickeln wollten. In diesem Sinne basierten die Hardware Crash Courses für Frauen gleichermaßen auf Neugier – das gemeinsame Erkunden des Inneren eines Computers – wie auf einer konsumkritischen Haltung: Das Wissen, wie aus alten Teilen ein lauffähiger Rechner zusammengebaut werden kann, ermöglicht in Verbindung mit freier Software eine weitgehende Selbständigkeit sowie Freiheit von kommerziellen Interessen. So einfach und so grundlegend waren die ursprünglichen Ziele. Die zunehmende Vernetzung unter computerinteressierten Frauen in ganz Europa und darüber hinaus weckte das Interesse, auch in anderen Städten, wie etwa London und Madrid, das Modell der Genderchangers Academy – also eine lustvolle „Selbsthilfegruppe“, die sich weniger als Organisation, denn als Gruppierung versteht – zu etablieren. Möglicherweise, weil sich die spezifische Zusammensetzung der ersten Genderchangers nicht ohne weiteres wiederholen ließ, zerfielen diese neuen Gruppen schnell wieder. Die Hardwarekurse in Amsterdam zogen dagegen durchaus immer mehr Frauen an und haben bis heute viele Teilnehmerinnen.
Alle für alle im /etc
Im Sommer 2002 übersiedelten die Genderchangers nach einer Einladung als temporäres Camp nach Pula, Kroatien. Ziel war die gleichberechtigte Begegnung unter Frauen mit ähnlichen Interessen, weniger ein Wissenstransfer von Lehrenden hin zu Lernenden. Damit wurde eine neue Form der gemeinsamen Aneignung von Kenntnissen und Fähigkeiten geschaffen. Für diese neue Form wurde die Bezeichnung Eclectic Tech Carnival (/etc) gewählt. In Dateisystemen, die auf Unix basieren finden sich unter /etc wichtige Konfigurationsdateien insbesondere für Kommunikationsprozesse. Auf der ursprünglich in Analogie zum Unix-Dateisystem konstruierten Website der Genderchangers enthielt die Seite /etc Informationen über Möglichkeiten, das weiblich sozialisierte Leben unterschiedlich zu konfigurieren. Die in Pula zusammengekommenen Frauen definierten das Akronym als Eclectic Tech Carnival für sich neu: „Eclectic”, weil sowohl das Wissen wie auch die Teilnehmerinnen aus den unterschiedlichsten Gebieten und Regionen kamen, „Tech”, weil es eben darum ging, und „Carnival”, weil es sowohl lustvoll wie auch grenzüberschreitend – in jeder Hinsicht – sein sollte. Anders als bei einer Konferenz oder einem Festival wurde nicht zwischen eingeladenen Gästen, Zuhörerinnen und Organisatorinnen unterschieden, sondern es gab ausschließlich Teilnehmerinnen mit unterschiedlichen Ressourcen und Fähigkeiten. Die Frauen verstanden sich als im gleichen Ausmaß Beteiligte, von denen jede, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, dazu beitragen konnte, dass am Ende alle mehr wussten. Auch wenn der Eclectic Tech Carnival keine fixen Strukturen hat, gehört dieses Prinzip zu den Grundsteinen, nach denen die Veranstaltung immer noch funktioniert. Während die Genderchangers Academy weiterhin in Amsterdam Computerworkshops mit und für Frauen organisiert, findet /etc seit 2002 immer nur dann und dort statt, wo sich Frauen finden, die die lokale Organisationsarbeit übernehmen wollen. 2003 fand der zweite /etc in Athen statt, wobei die lokalen Frauen von Frauen aus Zagreb, Belgrad und Amsterdam online und vor Ort unterstützt wurden. Themen, die dann im Juli 2003 behandelt wurden, waren u.a. Grundlagen der Computertechnologie, Einführung in das Betriebssystem Linux, Hardware, Verschlüsselung sowie offene Diskussionen zu Geschlechterfragen und Technologie. Eine einfache Unterkunft wurde bereitgestellt und alle beteiligten sich an der Vorbereitung der gemeinsamen Mahlzeiten. „Do it together“, der Slogan der Genderchangers, zieht sich durch alle Tätigkeiten.
Grenzen durch Geopolitik
Auf Athen folgte im Jahre 2004 Belgrad, weil Frauen von Zene Na Delu (Women @ Work), die bereits in Pula und Athen dabei gewesen waren, der Meinung waren, /etc decke sich mit ihren Zielen und Bestrebungen, und sei eine gute Gelegenheit mehr Frauen anzusprechen und das Interesse für nicht-traditionelle Berufe zu wecken. Eine Vernetzung unter den bisherigen Teilnehmerinnen hatte sich inzwischen über Mailinglisten und IRC (Internet Relay Chat) verdichtet, doch als ein Vorbereitungstreffen in Madrid angesetzt wurde, zeigte sich, dass Zusammenarbeit auch Grenzen hat, nämlich geopolitische: Eine Mitorganisatorin aus Belgrad erhielt kein Visum für Spanien und konnte nicht am Vorbereitungstreffen teilnehmen. So wie bestimmte idealistische Prinzipien die Geschichte des /etc durchziehen, tauchen auch immer wieder bestimmte Probleme auf. So setzt skill-sharing, der Wissenstausch, gewisse Bedingungen voraus. Vielen interessierten Frauen an Orten, an denen keine vergleichbaren (auch informellen) Anbindungen wie etwa jene zum ASCII-Umfeld bestehen, fehlt es oft sowohl an Material wie auch an Zeit. Das online-Netzwerk des /etc bietet zwar auch unabhängig von den /etc-Treffen Unterstützung, allerdings brauchen die Frauen dafür erstens Zugang zum Internet, und zweitens sind manche Probleme trotz allem nur persönlich und vor Ort zu lösen. Doch sind es nicht nur teilweise fehlende Ressourcen, die eine Ungleichheit verursachen: Die unterschiedlich geregelte Mobilität der Frauen, die im Wissenstausch online weniger sichtbar ist, schafft mitunter massive Exklusionen, wenn die Frauen sich „face-to-face” treffen wollen. Wer darf wohin reisen, um Wissen auszutauschen, wer kann es sich leisten und wer nicht?
2005 fand ein /etc in Graz statt und obwohl niemand aus Graz vorher an einem /etc teilgenommen hatte, wurden dennoch noch einmal weitere Kreise erschlossen. Während die bestehende Infrastruktur und die neu dazu gekommenen Frauen zum Teil Erwartungen in Bezug auf Organisation und Durchführung weckten und eine Entwicklung in Richtung Konferenz oder Festival fast nahe legten, wurde diese Tendenz im darauffolgenden Jahr noch einmal umgedreht: Künstlerinnen aus Rumänien, die am /etc 2005 in Graz teilgenommen hatten, erklärten sich bereit, /etc 2006 in Timosoara zu organisieren. Die Künstlerinnen waren entschlossen, sich eingehender mit den technischen Mitteln und Möglichkeiten der Kunst auseinanderzusetzen. Von einer bestehenden Infrastruktur konnte allerdings keine Rede sein. Die Zusammenarbeit mit dem internationalen Netzwerk funktionierte ausgezeichnet, aber nach dieser Anstrengung fand sich niemand unmittelbar bereit, die Vorbereitungen für einen nächsten /etc auf sich zu nehmen. Als sich einige Monate später in Berlin eine Frau aus Österreich und eine aus Brasilien trafen, die zwar beide nicht in Timosoara dabei gewesen waren, sich aber von den /etc-Mailinglisten her kannten, entstand die Idee, einen /etc gleichzeitig auf zwei Kontinenten durchzuführen. Eine simultane Durchführung war dann zwar nicht möglich, letztlich fand der /etc 2007 aber tatsächlich sowohl in Linz wie auch in Salvador statt. Der /etc hat als ein kleines Treffen für Hackerinnen angefangen, heute stellt das stärker werdende Interesse von Künstlerinnen einen weiteren Schwerpunkt dar. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein der vernetzten Frauen für die Wichtigkeit von politischem Aktivismus und für die Notwendigkeit, mit den entsprechenden Tools umgehen zu können. Die auch ideologischen Trennlinien sind dabei nicht scharf oder einheitlich gesetzt. Auf Grund von ideologischen Unterschieden zwischen Free Software und Open Source verschwimmen die Grenzen zwischen kommerziell und nicht kommerziell, da Open Source inzwischen auch als vielversprechendes business model gehandelt wird und manche Puristinnen Linux-Versionen grundsätzlich ablehnen, die von kommerziellen Firmen betrieben werden. Auch über einen sinnvollen Umgang mit Social Networking Sites wie Facebook, Flickr usw. gehen die Meinungen weit auseinander. Doch die Überzeugung, dass es wichtig ist, sich auszukennen, bleibt aufrecht, und dazu gehört der Austausch zwischen Menschen, die diese Überzeugung teilen.
Das Problem der ungleichen Reisebedingungen besteht weiter, doch dafür lassen sich andere Grenzen leichter überwinden: Nachdem die Entscheidung für einen „women-only space“ nicht aus ideologischen, sondern eher aus persönlichen und pragmatischen Gründen erfolgte, wird eine Öffnung in Richtung queer bzw. gender minorities von einer breiteren Basis im /etc-Netzwerk mitgetragen. Durch Verflechtungen mit alternativen und queeren Veranstaltungen und Bewegungen wie etwa ladyfest oder indymedia ist das internationale /etc-Netzwerk weiter gewachsen und umfasst mittlerweile mehrere Hundert Beteiligte: von anarchistischen Hackerinnen bis zu akademisch ausgebildeten Programmiererinnen, von politischen Aktivistinnen bis zu experimentellen Künstlerinnen aus allen Sparten. Dadurch wird auch in den Workshops vor Ort eine beeindruckende Vielfalt an Möglichkeiten des Wissenstauschs angeboten. Dennoch wurden bei den Reflexionen am Ende des /etc 2008 im Mai in Amsterdam Bedenken geäußert, dass das ursprüngliche Anliegen etwas aus dem Blickfeld geraten könnte: die Weitergabe von technischem Wissen in einem Freiraum, in dem männlich codiertes Verhalten, das in anderen technisch orientierten Zusammenhängen meistens vorherrscht, keinen Platz hat. Wer an einem Eclectic Tech Carnival teilnimmt, soll sich die gewünschten und benötigten technischen Fähigkeiten möglichst frei von allen Vorurteilen und Erwartungen lustvoll und selbstbestimmt und gemeinsam mit Gleichgesinnten aneignen können.
Aileen Derieg lebt und arbeitet in Linz als Übersetzerin mit Schwerpunkt zeitgenössische Kunst und Neue Medien, war auch Mitorganisatorin des /etc 2007 in Linz.
eliot.at