MURAU ❤️ Frauen in der Kulturarbeit am Land.
Der Bezirk Murau ist recht weit weg: Geografisch gesehen von Ballungszentren wie Graz, Salzburg, Klagenfurt oder Wien, gefühlt von urbanen Selbstverständlichkeiten, wie der Anonymität eines Kaffeehausbesuches, der Möglichkeit unkommentiert den eigenen modischen Vorstellungen zu folgen oder der Annahme, dass Beziehungen Privatsache sind.
Die sozialen Netze sind enger gewebt, denn wir sind stärker voneinander abhängig. Die gegenseitige Anteilnahme und Verbundenheit sind größer, die gegenseitige Beobachtung und Kontrolle ebenso. Ferngläser auf Fensterbänken sind keine Seltenheit, man weiß halt gerne, was der Nachbar macht. Die Weitergabe des Gesehenen und die anschließende Diskussion darüber ist der soziale Leim, der uns zusammenhält. Wir leben in der Sicherheit, dass im Falle einer Notlage immer irgendjemand da sein wird, um zu helfen. Wir leben in der Gewissheit, dass im Falle eines Ereignisses immer jemand da sein wird, um es zu beobachten.
Die Rollenbilder sind recht konkret und haben ihre Wurzeln in der traditionellen Familienvorstellung längst vergangener Zeiten. Männer und Frauen haben ihre Zuständigkeiten, in vielen Fällen geschlechterspezifisch getrennt, den dazugehörigen Verhaltenskodex gilt es zu kennen.
Die Freiräume in diesem engmaschigen Netzwerk sind klein, was Nachteile mit sich bringt, denn der Freiraum für Entwicklung fehlt. Das Land verändert sich. Rasend schnell und doch scheinbar unsichtbar, weil wir gerne so tun, als würde irgendwann alles wieder wie früher werden. Agrarpolitik, Abwanderung, Digitalisierung, Klimakrise. Was vor einer Generation noch erstrebenswert war, ist jetzt obsolet, unmöglich oder wirtschaftlich nicht mehr tragbar.
Vieles, was eigentlich keinen Sinn mehr macht, bleibt bestehen, weil die Alternativen fehlen und weil man sich in unsicheren Zeiten gerne an dem festhält, was man kennt. Die großen Brocken der Veränderung sind im engmaschigen Netz des Zusammenlebens hängengeblieben.
Die Kulturarbeit am Land findet oft im traditionellen Bereich statt. Nicht, dass diese Leistung von den jeweiligen Leistungsträger*innen als Kulturarbeit bezeichnet werden würde, es ist einfach Teil des Lebens, Teil des Netzwerks, dem wir zugehörig sind: Brauchtumspflege, Vereine, Blasmusik, Chöre, Zeltfeste.
Abseits der Tradition passiert auch ganz schön viel hier, nicht zuletzt bedingt durch die REGIONALE XII im Jahr 2012. Sie hat Entwicklungsräume in der Region gezeigt und geöffnet und den Boden bereitet für weitere Projekte. Nachhaltig, prozessorientiert … abserviert. RIP REGIONALE.
Die gute Nachricht für Murau ist, dass sie zumindest durchgeführt werden konnte. Auf dem fruchtbaren Boden, den sie hinterlassen hat, ist vieles und sind viele gewachsen. Kulturinitiativen, Veranstalter*innen, Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen. Murau hat sich gemausert in den letzten Jahren und kann mit – wortwörtlich – ausgezeichneter Kultur beeindrucken. Starke und mutige Projekte, die weit über die Bezirksgrenzen hinaus noch sichtbar sind und wahrgenommen werden.
DIE FRAUEN
Die Frauen im Bezirk sind auch stark und mutig. Im Gegensatz zu den Kulturprojekten bleiben sie in den meisten Fällen aber unsichtbar.
Absichtlich bleiben sie oft im Hintergrund, weil sie über ihre Beziehungen und nicht über ihre Leistungen definiert werden, wenn sie sich sichtbar machen. Weil sie als „Tochter von …“, „Frau von …“ oder „Mutter von …“ im sozialen Netzwerk verortet werden, unabhängig von ihren Fähigkeiten und Interessen. Weil sie auch über ihre Rolle als Tochter, als Frau, als Mutter und über ihre Familiengeschichte bewertet und kritisiert werden, was unfair ist und mühsam noch dazu. Gängige Floskeln wie „Das musst du schon aushalten in deiner Position“ nach dem Motto „selber Schuld, was drängst dich denn vor“ wirken wahrlich nicht inspirierend oder ermutigend.
Frauen bleiben auch ungewollt in der hinteren Reihe, weil sie im traditionellen Gefüge oft die Rolle der „Zuarbeiterin“ haben, jene, die sich um die Verpflegung kümmern und im Hintergrund dafür sorgen, dass alles läuft. Diejenigen, die Haus und Hof zusammenhalten, wobei das Zusammenhalten und Kümmern – als vermeintlich weiblicher Urinstinkt – von Wertschätzung und Sichtbarmachung gern ausgenommen wird, von Bezahlung sowieso.
Sichtbar werden die Frauen am Land vor allem durch die Lücken, die sie hinterlassen, wenn sie weggehen. Wenn das Leben weniger wird, wenn die Schulen schließen, wenn „Bauer sucht Frau“ die 17. Staffel sendet und der Nachwuchs bei den Vereinen weniger wird. Frauen leiden wahrscheinlich am meisten unter der Enge des veränderungsresistenten sozialen Netzes, und dort wo das Leid am größten ist, ist es der Wille zur Veränderung ebenso. Diese Veränderung braucht Raum. Raum für Entwicklung, frei von Bewertung und Vorurteilen, prozessorientiert und nicht ergebnisorientiert, losgelöst vom Regelwerk des sozialen Netzes.
KULTURARBEIT
Kulturarbeit bietet für Frauen die Möglichkeit, Projekte in der Idealform zu denken und durchzuführen. Themenbezogen, gendergerecht, zu einer Uhrzeit, die für das weibliche Publikum passend ist unter Berücksichtigung von Kinderbetreuungs- und Arbeitszeiten. Projekte, die inspirieren und die Augen öffnen, die Atmen lassen und die starren Systeme durchbrechen. Projekte, die einfach angegangen werden können, ohne lange zu fragen. Kleine, optimierte Inseln, die ihren Teilnehmerinnen zeigen „So geht es auch!“, „So darfst du sein“, „Du bist willkommen hier!“. Umzusetzen, was gerade nötig ist, Themen aufzugreifen, die anderswo keinen Platz finden, mit Freude und Kreativität an Lösungen zu arbeiten, da sonst die Entwicklung stagniert und der ländliche Raum ausstirbt. In den Räumen, aus den sich das Altbekannte verabschiedet hat, kann dadurch Neues entstehen. Es entsteht aber nur wenn jene, die die Fähigkeit haben diese Räume zu bespielen, gesehen, gefördert und finanziert werden.
Finanziert wird meist nur was sichtbar ist, was auf Bühnen stattfindet und in den dafür vorgesehenen Veranstaltungshäusern. Das was messbar ist mittels Besucher- und Verkaufszahlen, was auf Pressefotos gut aussieht. Das unsichtbare der Kulturarbeit, das Kümmern und Zusammenhalten, das Vernetzen und Entwickeln bleibt oft unerkannt … und unbudgetiert.
DAS VIRUS
Und plötzlich sind wir alle Murau, die Pandemie hat uns alle zu Landbewohner*innen gemacht:
Die sozialen Netze sind nun enger gewebt, denn wir sind stärker voneinander abhängig. Die gegenseitige Anteilnahme und Verbundenheit sind größer, die gegenseitige Beobachtung und Kontrolle ebenso. Ferngläser auf den Fensterbänken sind keine Seltenheit, man weiß halt gerne was der Nachbar macht. Überhaupt dann, wenn das Verhalten des Einzelnen Einfluss auf viele andere haben kann.
Die Rollenbilder sind plötzlich wieder recht konkret und haben ihre Wurzeln in traditionellen Familienvorstellungen längst vergangener Zeiten. Männer und Frauen haben ihre jeweiligen Zuständigkeiten, in vielen Fällen geschlechterspezifisch getrennt.
Die Freiräume zwischen den Maschen des Netzwerks sind klein geworden, was Nachteile mit sich bringt, denn der Freiraum für Entwicklung fehlt. Das gesamte Land verändert sich. Rasend schnell und doch scheinbar unsichtbar, weil wir gerne so tun, als würde irgendwann alles wieder sein wie früher. Arbeitslosigkeit, Lockdown, Corona. Was vor einem Jahr noch erstrebenswert war, ist jetzt obsolet, unmöglich oder wirtschaftlich nicht mehr tragbar.
Die Frauen sind nun jene, die Familie und Gesellschaft zusammenhalten, wobei das Zusammenhalten – als vermeintlich weiblicher Urinstinkt – von Wertschätzung und Sichtbarmachung gern ausgenommen wird, von ausreichender Bezahlung sowieso. Das Kümmern, das Sorgen, das Miteinander, das Homeschooling, Zuhören, das Reden, das Pflegen, das Am-Laufen-Halten der Infrastruktur.
Unsichtbar sind die Frauen geworden und als Ehefrau, als Tochter, als Mutter im sozialen Netzwerk verortet. Unabhängig von ihren Fähigkeiten und Interessen werden die jeweiligen Zuständigkeiten verteilt. Die Sache mit den Kindern, den Alten, den Kranken, dem Haushalt. Sonst rennt der Laden nicht, zumindest nicht so, wie es für einige am bequemsten ist.
Murau ist jetzt eigentlich gar nicht mehr weit weg. Die Problemstellungen des ländlichen Raumes, die man sonst so gerne als peripheres Problem betrachtet, betreffen plötzlich alle. Der Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten, der fehlende Handel, die eingeschränkte Mobilität, der Überhang an männlichen Entscheidungsträgern sind allgegenwärtig. Das patriarchale Grundsystem, auf dem unsere Gesellschaft aufbaut, ist sichtbar geworden und manifestiert sich in den Entscheidungen, die getroffen werden.
Vieles, was eigentlich keinen Sinn mehr macht, bleibt bestehen, weil die Alternativen fehlen und weil man sich in unsicheren Zeiten gerne an dem festhält was man kennt. Die großen Brocken der Veränderungen blieben im engmaschigen patriarchalen Netz unseres Zusammenlebens hängen.
Und die Kultur? Die Bühnen bleiben leer. Die Terminkalender und Konten ebenso. Die Frage, wohin die Gelder fließen, hängt damit zusammen, welche Bereiche gesehen und als wertvoll anerkannt werden. Es hängt von dem Grundverständnis jener ab, die die Gelder verteilen, von den Erfahrungswerten, die sie mitbringen und nicht zuletzt von ihrem Willen zur Macht und dem Wunsch, das bestehende System zu erhalten. Denn die Macht braucht Bühne … und Kontrolle. Kulturarbeit soll dort stattfinden, wo sie hingehört, in den dafür vorgesehenen Häusern. Keine Entwicklungsräume und partizipativen Ansätze, keine lebendigen kleine Zellen, die Neues hervorbringen und Bestehendes hinterfragen. Nur sind die Bühnen gerade leer und die Veranstaltungshäuser zu. Jetzt sind viele von uns dort, wo sich die Frauen in der Kulturarbeit am Land schon lange abmühen. Ungesehen und unterfinanziert, zurückgeworfen auf die Tragfähigkeit unserer sozialen Netze und abhängig von ihnen.
DIE CHANCE
Eigentlich öffnet sich grade ein Möglichkeitsraum. Am Land durchleben sich diverse Lockdowns – vom Homeschooling abgesehen – relativ entspannt, denn was man nie hatte, vermisst man auch nicht. Wir sind weiterhin handlungsfähig, unsere Netzwerke sind vorhanden, man kann darauf aufbauen. Neues kann entstehen, wenn man bereit ist, das Alte loszulassen.
Das System, in dem wir leben, das uns bewusst oder unbewusst dort hält, wo wir grade sind – am Ende der Nahrungskette, chronisch unterfinanziert, mit gelegentlichen Streicheleinheiten bedacht, damit die Motivation nicht ganz verloren geht – wird uns nicht mehr Wertschätzung entgegenbringen. Forderungen danach reichen nicht, sie reichen in Wirklichkeit schon lange nicht mehr.
Wir brauchen ein System, das weiß, wie essenziell die Leistungen der Frauen sind. Dass das Unsichtbare in der Kulturarbeit, das Kümmern und Zusammenhalten, das Vernetzen und Entwickeln, verdammt nochmal Budget braucht. Ein System, das jene, die die Fähigkeit haben, ausgestorbene Räume mit neuem Leben zu füllen, wahrnimmt, fördert und finanziert. Ein System mit einem Bewusstsein darüber, dass die Kulturarbeit – oft in enger Verbindung mit Bildung und Sozialem – den Boden dafür bereitet, dass wir als Gesellschaft und als Demokratie wachsen können.
So ein System sollten wir nicht nur fordern, wir sollten es bauen!
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Gunilla Plank ist seit 2011 in der Kulturarbeit am Land tätig. Verhaltensauffällig wurde sie durch Projekte wie „Oberwölz macht zu“, „STUBENrein“ und „murauerInnen“, weitere werden folgen…